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erstellt: Juli 2000 von Martin Schlu
Johann Wolfgang von Goethe
Werthers Leiden, 2. Buch
Seite
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Am 12. Dezember
1772 I Am 14.
Dezember 1772 I Am 20.
Dezember 1772
Am 12. Dezember
1772
Lieber Wilhelm, ich bin in einem Zustande, in
dem jene Unglücklichen gewesen sein
müssen, von denen man glaubte, sie würden
von einem bösen Geiste umhergetrieben.
Manchmal ergreift mich's; es ist nicht Angst, nicht
Begier - es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das
meine Brust zu zerreißen droht, das mir die
Gurgel zupreßt! Wehe! Wehe! Und dann schweife
ich umher in den furchtbaren nächtlichen
Szenen dieser menschenfeindlichen Jahrszeit.
Gestern abend mußte ich hinaus. Es war
plötzlich Tauwetter eingefallen, ich hatte
gehört, der Fluß sei übergetreten,
alle Bäche geschwollen und von Wahlheim
herunter mein liebes Tal überschwemmt! Nachts
nach eilfe rannte ich hinaus. Ein
fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter
die wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln
zu sehen, über Äcker und Wiesen und
Hecken und alles, und das weite Tal hinauf und
hinab eine stürmende See im Sausen des Windes!
Und wenn dann der Mond wieder hervortrat und
über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir
hinaus die Flut in fürchterlich herrlichem
Widerschein rollte und klang: da überfiel mich
ein Schauer, und wieder ein Sehnen! Ach, mit
offenen Armen stand ich gegen den Abgrund und
atmete hinab! Hinab! Und verlor mich in der Wonne,
meine Qualen, meine Leiden da hinabzustürmen!
Dahinzubrausen wie die Wellen! O! - Und den
Fuß vom Boden zu heben vermochtest du nicht,
und alle Qualen zu enden! - Meine Uhr ist noch
nicht ausgelaufen, ich fühle es! O Wilhelm!
Wie gern hätte ich mein Menschsein drum
gegeben, mit jenem Sturmwinde sie Wolken zu
zerreißen, die Fluten zu fassen! Ha! Und wird
nicht vielleicht dem Eingekerkerten einmal diese
Wonne zuteil?
- Und wie ich wehmütig hinabsah auf ein
Plätzchen, wo ich mit Lotten unter einer Weide
geruht, auf einem heißen Spaziergange, - das
war auch überschwemmt, und kaum daß ich
die Weide erkannte! Wilhelm! Und ihre Wiesen,
dachte ich, die Gegend um ihr Jagdhaus! Wie
verstört jetzt vom reißenden Strome
unsere Laube! Dacht' ich. Und der Vergangenheit
Sonnenstrahl blickte herein, wie einem Gefangenen
ein Traum von Herden, Wiesen und Ehrenämtern.
Ich stand! - ich schelte mich nicht, denn ich habe
Mut zu sterben. - ich hätte - nun sitze ich
hier wie ein altes Weib, das ihr Holz von
Zäunen stoppelt und ihr Brot an den
Türen, um ihr hinsterbendes, freudeloses
Dasein noch einen Augenblick zu verlängern und
zu erleichtern".
14.
Dezember 1772
Seitenanfang
Was ist das, mein Lieber? Ich erschrecke vor mir
selbst! Ist nicht meine Liebe zu ihr die heiligste,
reinste, brüderlichste Liebe? Habe ich jemals
einen strafbaren Wunsch in meiner Seele
gefühlt? - ich will nicht beteuern - und nun,
Träume! O wie wahr fühlten die Menschen,
die so widersprechende Wirkungen fremden
Mächten zuschrieben! Diese Nacht! Ich zittere,
es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an
meinen Busen gedrückt, und deckte ihren
liebelispelnden Mund mit unendlichen Küssen;
mein Auge schwamm in der Trunkenheit des ihrigen!
Gott! Bin ich strafbar, daß ich auch jetzt
noch eine Seligkeit fühle, mir diese
glühenden Freuden mit voller Innigkeit
zurückzurufen? Lotte! Lotte! - und mit mir ist
es aus! Meine Sinne verwirren sich, schon acht Tage
habe ich keine Besinnungskraft mehr, meine Augen
sind voll Tränen. Ich bin nirgend wohl, und
überall wohl. Ich wünsche nichts,
verlange nichts. Mir wäre besser, ich
ginge".
Der Entschluß, die Welt zu verlassen, hatte
in dieser Zeit, unter solchen Umständen in
Werthers Seele immer mehr Kraft gewonnen. Seit der
Rückkehr zu Lotten war es immer seine letzte
Aussicht und Hoffnung gewesen; doch hatte er sich
gesagt, es solle keine übereilte, keine rasche
Tat sein, er wolle mit der besten Überzeugung,
mit der möglichst ruhigen Entschlossenheit
diesen Schritt tun.
Seine Zweifel, sein Streit mit sich selbst blicken
aus einem Zettelchen hervor, das wahrscheinlich ein
angefangener Brief an Wilhelm ist und ohne Datum
unter seinen Papieren gefunden worden:
Ihre Gegenwart, ihr Schicksal, ihre Teilnehmung an
dem meinigen preßt noch die letzten
Tränen aus meinem versengten Gehirne. Den
Vorhang aufzuheben und dahinter zu treten! Das ist
alles! Und warum das Zaudern und Zagen? Weil man
nicht weiß, wie es dahinten aussieht? Und man
nicht wiederkehrt? Und daß das nun die
Eigenschaft unseres Geistes ist, da Verwirrung und
Finsternis zu ahnen, wovon wir nichts Bestimmtes
wissen".
Endlich ward er mit dem traurigen Gedanken immer
mehr verwandt und befremdet und sein Vorsatz fest
und unwiderruflich, wovon folgender zweideutige
Brief, den er an seinen Freund schrieb, ein Zeugnis
abgibt.
20.
Dezember 1772
Seitenanfang
Ich danke deiner Liebe, Wilhelm, daß du
das Wort so aufgefangen hast. Ja, du hast recht:
mir wäre besser, ich ginge. Der Vorschlag, den
du zu einer Rückkehr zu euch tust,
gefällt mir nicht ganz; wenigstens möchte
ich noch gern einen Umweg machen, besonders da wir
anhaltenden Frost und gute Wege zu hoffen haben.
Auch ist mir es sehr lieb, daß du kommen
willst, mich abzuholen; verziehe nur noch vierzehn
Tage, und erwarte noch einen Brief von mir mit dem
Weiteren. Es ist nötig, daß nichts
gepflückt werde, ehe es reif ist. Und vierzehn
Tage auf oder ab tun viel. Meiner Mutter sollst du
sagen: daß sie für ihren Sohn beten
soll, und daß ich sie um Vergebung bitte
wegen alles Verdrusses, den ich ihr gemacht habe.
Das war nun mein Schicksal, die zu betrüben,
denen ich Freude schuldig war. Leb' wohl, mein
Teuerster! Allen Segen des Himmels über dich!
Leb' wohl!"
Was in dieser Zeit in Lottens Seele vorging, wie
ihre Gesinnungen gegen ihren Mann, gegen ihren
unglücklichen Freund gewesen, getrauen wir uns
kaum mit Worten auszudrücken, ob wir uns
gleich davon, nach der Kenntnis ihres Charakters,
wohl einen stillen Begriff machen können, und
eine schöne weibliche Seele sich in die ihrige
denken und mit ihr empfinden kann.
So viel ist gewiß, sie war fest bei sich
entschlossen, alles zu tun, um Werthern zu
entfernen, und wenn sie zauderte, so war es eine
herzliche, freundschaftliche Schonung, weil sie
wußte, wie viel es ihm kosten, ja daß
es ihm beinahe unmöglich sein würde. Doch
ward sie in dieser Zeit mehr gedrängt, Ernst
zu machen; es schwieg ihr Mann ganz über dies
Verhältnis, wie sie auch immer darüber
geschwiegen hatte, und um so mehr war ihr
angelegen, ihm durch die Tat zu beweisen, wie ihre
Gesinnungen der seinigen wert seien.
An demselben Tage, als Werther den zuletzt
eingeschalteten Brief an seinen Freund geschrieben,
es war der Sonntag vor Weihnachten, kam er abends
zu Lotten und fand sie allein. Sie
beschäftigte sich, einige Spielwerke in
Ordnung zu bringen, die sie ihren kleinen
Geschwistern zum Christgeschenke zurecht gemacht
hatte. Er redete von dem Vergnügen, das die
Kleinen haben würden, und von den Zeiten, da
einen die unerwartete Öffnung der Tür und
die Erscheinung eines aufgeputzten Baumes mit
Wachslichtern, Zuckerwerk und Äpfeln in
paradiesische Entzückung setzte. -"Sie
sollen,"sagte Lotte, indem sie ihre Verlegenheit
unter ein liebes Lächeln verbarg,"Sie sollen
auch beschert kriegen, wenn Sie recht geschickt
sind; ein Wachsstöckchen und noch was". -"Und
was heißen Sie geschickt sein?"rief er
aus;"wie soll ich sein? Wie kann ich sein? Beste
Lotte!"-"Donnerstag abend", sagte sie,"ist
Weihnachtsabend, da kommen die Kinder, mein Vater
auch, da kriegt jedes das Seinige, da kommen Sie
auch - aber nicht eher". - Werther stutzte. -"Ich
bitte Sie,"fuhr sie fort,"es ist nun einmal so, ich
bitte um meiner Ruhe willen, es kann nicht, es kann
nicht so bleiben". - Er wendete seine Augen von ihr
und ging in der Stube auf und ab und murmelte
das"es kann nicht so bleiben!"zwischen den
Zähnen. - Lotte, die den schrecklichen Zustand
fühlte, worein ihn diese Worte versetzt
hatten, suchte durch allerlei Fragen seine Gedanken
abzulenken, aber vergebens. -"Nein, Lotte,"rief er
aus,"ich werde Sie nicht wiedersehen!"-"Warum
das?"versetzte sie,"Werther, Sie können, Sie
müssen uns wiedersehen, nur mäßigen
Sie sich. O warum mußten Sie mit dieser
Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden
Leidenschaft für alles, was Sie einmal
anfassen, geboren werden! Ich bitte Sie,"fuhr sie
fort, indem sie ihn bei der Hand
nahm,"mäßigen Sie sich! Ihr Geist, Ihre
Wissenschaften, Ihre Talente, was bieten die Ihnen
für mannigfaltige Ergetzungen dar! Sein Sie
ein Mann, wenden Sie diese traurige
Anhänglichkeit von einem Geschöpf, das
nichts tun kann als Sie bedauern". - Er knirrte mit
den Zähnen und sah sie düster an. - Sie
hielt seine Hand. "Nur einen Augenblick ruhigen
Sinn, Werther!"sagte sie". Fühlen Sie nicht,
daß Sie sich betriegen, sich mit Willen
zugrunde richten! Warum denn mich, Werther? Just
mich, das Eigentum eines andern? Just das? Ich
fürchte, ich fürchte, es ist nur die
Unmöglichkeit, mich zu besitzen, die Ihnen
diesen Wunsch so reizend macht". - Er zog seine
Hand aus der ihrigen, indem er sie mit einem
starren, unwilligen Blick ansah. "Weise!"rief
er,"sehr weise! Hat vielleicht Albert diese
Anmerkung gemacht? Politisch! Sehr politisch!"-"Es
kann sie jeder machen", versetzte sie drauf, "und
sollte denn in der weiten Welt kein Mädchen
sein, das die Wünsche Ihres Herzens
erfüllte? Gewinnen Sie's über sich,
suchen Sie darnach, und ich schwöre Ihnen, Sie
werden sie finden; denn schon lange ängstigt
mich, für Sie und uns, die Einschränkung,
in die Sie sich diese Zeit her selbst gebannt
haben. Gewinnen Sie über sich, eine Reise wird
Sie, muß Sie zerstreuen! Suchen Sie, finden
Sie einen werten Gegenstand Ihrer Liebe, und kehren
Sie zurück, und lassen Sie uns zusammen die
Seligkeit einer wahren Freundschaft
genießen". "das könnte man", sagte er
mit einem kalten Lachen, "drucken lassen und allen
Hofmeistern empfehlen. Liebe Lotte! Lassen Sie mir
noch ein klein wenig Ruh, es wird alles
werden!"-"nur das, Werther, daß Sie nicht
eher kommen als Weihnachtsabend!"- er wollte
antworten, und Albert trat in die Stube. Man bot
sich einen frostigen Guten Abend und ging verlegen
im Zimmer neben einander auf und nieder. Werther
fing einen unbedeutenden Diskurs an, der bald aus
war, Albert desgleichen, der sodann seine Frau nach
gewissen Aufträgen fragte und, als er
hörte, sie seien noch nicht ausgerichtet, ihr
einige Worte sagte, die Werthern kalt, ja gar hart
vorkamen. Er wollte gehen, er konnte nicht und
zauderte bis acht, da sich denn sein Unmut und
Unwillen immer vermehrte, bis der Tisch gedeckt
wurde, und er Hut und Stock nahm. Albert lud ihn zu
bleiben, er aber, der nur ein unbedeutendes
Kompliment zu hören glaubte, dankte kalt
dagegen und ging weg.
Er kam nach Hause, nahm seinem Burschen, der ihm
leuchten wollte, das Licht aus der Hand und ging
allein in sein Zimmer, weinte laut, redete
aufgebracht mit sich selbst, ging heftig die Stube
auf und ab und warf sich endlich in seinen Kleidern
aufs Bette, wo ihn der Bediente fand, der es gegen
eilfe wagte hineinzugehn, um zu fragen, ob er dem
Herrn die Stiefeln ausziehen sollte, das er denn
zuließ und dem Bedienten verbot, den andern
Morgen ins Zimmer zu kommen, bis er ihm rufen
würde.
Montags früh, den einundzwanzigsten
Dezember, schrieb er folgenden Brief an Lotten, den
man nach seinem Tode versiegelt auf seinem
Schreibtische gefunden und ihr überbracht hat,
und den ich absatzweise hier einrücken will,
so wie aus den Umständen erhellet, daß
er ihn geschrieben habe.
"Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben,
und das schreibe ich dir ohne romantische
Überspannung, gelassen, an dem Morgen des
Tages, an dem ich dich zum letzten Male sehen
werde. Wenn du dieses liesest, meine Beste, deckt
schon das kühle Grab die erstarrten Reste des
Unruhigen, Unglücklichen, der für die
letzten Augenblicke seines Lebens keine
größere Süßigkeit weiß,
als sich mit dir zu unterhalten. Ich habe eine
schreckliche Nacht gehabt und, ach, eine
wohltätige Nacht. Sie ist es, die meinen
Entschluß befestiget, bestimmt hat: ich will
sterben! Wie ich mich gestern von dir riß, in
der fürchterlichen Empörung meiner Sinne,
wie sich alles das nach meinem Herzen drängte
und mein hoffnungsloses, freudeloses Dasein neben
dir in gräßlicher Kälte mich
anpackte - ich erreichte kaum mein Zimmer, ich warf
mich außer mir auf meine Knie, und o Gott! Du
gewährtest mir das letzte Labsal der
bittersten Tränen! Tausend Anschläge,
tausend Aussichten wüteten durch meine Seele,
und zuletzt stand er da, fest, ganz, der letzte,
einzige Gedanke: ich will sterben! - ich legte mich
nieder, und morgens, in der Ruhe des Erwachens,
steht er noch fest, noch ganz stark in meinem
Herzen: ich will sterben! - es ist nicht
Verzweiflung, es ist Gewißheit, daß ich
ausgetragen habe, und daß ich mich opfere
für dich. Ja, Lotte! Warum sollte ich es
verschweigen? Eins von uns dreien muß hinweg,
und das will ich sein! O meine Beste! In diesem
zerrissenen Herzen ist es wütend
herumgeschlichen, oft - deinen Mann zu ermorden! -
dich! - mich! - so sei es denn! - wenn du
hinaufsteigst auf den Berg, an einem schönen
Sommerabende, dann erinnere dich meiner, wie ich so
oft das Tal heraufkam, und dann blicke nach dem
Kirchhofe hinüber nach meinem Grabe, wie der
Wind das hohe Gras im Scheine der sinkenden Sonne
hin und her wiegt. - ich war ruhig, da ich anfing,
nun, nun weine ich wie ein Kind, da alles das so
lebhaft um mich wird.-"
Gegen zehn Uhr rief Werther seinem Bedienten,
und unter dem Anziehen sagte er ihm, wie er in
einigen Tagen verreisen würde, er solle daher
die Kleider auskehren und alles zum Einpacken
zurecht machen; auch gab er ihm Befehl,
überall Kontos zu fordern, einige ausgeliehene
Bücher abzuholen und einigen Armen, denen er
wöchentlich etwas zu geben gewohnt war, ihr
Zugeteiltes auf zwei Monate voraus zu bezahlen.
Er ließ sich das Essen auf die Stube
bringen, und nach Tische ritt er hinaus zum
Amtmanne, den er nicht zu Hause antraf. Er ging
tiefsinnig im Garten auf und ab und schien noch
zuletzt alle Schwermut der Erinnerung auf sich
häufen zu wollen.
Die Kleinen ließen ihn nicht lange in
Ruhe, sie verfolgten ihn, sprangen an ihm hinauf,
erzählen ihm, daß, wenn morgen, und
wieder morgen, und noch ein Tag wäre, sie die
Christgeschenke bei Lotten holten, und
erzählten ihm Wunder, die sich ihre kleine
Einbildungskraft versprach. -"morgen!"rief er
aus,"und wieder morgen! Und noch ein Tag!"- und
küßte sie alle herzlich und wollte sie
verlassen, als ihm der Kleine noch etwas in das Ohr
sagen wollte. Der verriet ihm, die großen
Brüder hätten schöne
Neujahrswünsche geschrieben, so groß!
Und einen für den Papa, für Albert und
Lotten einen und auch einen für Herrn Werther;
die wollten sie am Neujahrstage früh
überreichen. das übermannte ihn, er
schenkte jedem etwas, setzte sich zu Pferde,
ließ den Alten grüßen und ritt mit
Tränen in den Augen davon.
Gegen fünf kam er nach Hause, befahl der
Magd, nach dem Feuer zu sehen und es bis in die
Nacht zu unterhalten. Den Bedienten hieß er
Bücher und Wäsche unten in den Koffer
packen und die Kleider einnähen. Darauf
schrieb er wahrscheinlich folgenden Absatz seines
letzten Briefes an Lotten.
"Du erwartest mich nicht! Du glaubst, ich
würde gehorchen und erst Weihnachtsabend dich
wieder sehn. O Lotte! Heut oder nie mehr.
Weihnachtsabend hältst du dieses Papier in
deiner Hand, zitterst und benetzest es mit deinen
lieben Tränen. Ich will, ich muß! O wie
wohl ist es mir, daß ich entschlossen
bin".
Lotte war indes in einen sonderbaren Zustand
geraten. Nach der letzten Unterredung mit Werthern
hatte sie empfunden, wie schwer es ihr fallen
werde, sich von ihm zu trennen, was er leiden
würde, wenn er sich von ihr entfernen
sollte.
Es war wie im Vorübergehn in Alberts
Gegenwart gesagt worden, daß Werther vor
Weihnachtsabend nicht wieder kommen werde, und
Albert war zu einem Beamten in der Nachbarschaft
geritten, mit dem er Geschäfte abzutun hatte,
und wo er über Nacht ausbleiben
mußte.
Sie saß nun allein, keins von ihren
Geschwistern war um sie, sie überließ
sich ihren Gedanken, die stille über ihren
Verhältnissen herumschweiften. Sie sah sich
nun mit dem Mann auf ewig verbunden, dessen Liebe
und Treue sie kannte, dem sie von Herzen zugetan
war, dessen Ruhe, dessen Zuverlässigkeit recht
vom Himmel dazu bestimmt zu sein schien, daß
eine wackere Frau das Glück ihres Lebens
darauf gründen sollte; sie fühlte, was er
ihr und ihren Kindern auf immer sein würde.
Auf der andern Seite war ihr Werther so teuer
geworden, gleich von dem ersten Augenblick ihrer
Bekanntschaft an hatte sich die
Übereinstimmung ihrer Gemüter so
schön gezeigt, der lange dauernde Umgang mit
ihm, so manche durchlebte Situationen hatten einen
unauslöschlichen Eindruck auf ihr Herz
gemacht. Alles, was sie Interessantes fühlte
und dachte, war sie gewohnt mit ihm zu teilen, und
seine Entfernung drohete in ihr ganzes Wesen eine
Lücke zu reißen, die nicht wieder
ausgefüllt werden konnte. O, hätte sie
ihn in dem Augenblick zum Bruder umwandeln
können, wie glücklich wäre sie
gewesen! Hätte sie ihn einer ihrer Freundinnen
verheiraten dürfen, hätte sie hoffen
können, auch sein Verhältnis gegen Albert
ganz wieder herzustellen!
Sie hatte ihre Freundinnen der Reihe nach
durchgedacht und fand bei einer jeglichen etwas
auszusetzen, fand keine, der sie ihn gegönnt
hätte.
Über allen diesen Betrachtungen fühlte
sie erst tief, ohne sich es deutlich zu machen,
daß ihr herzliches, heimliches Verlangen sei,
ihn für sich zu behalten, und sagte sich
daneben, daß sie ihn nicht behalten
könne, behalten dürfe; ihr reines,
schönes, sonst so leichtes und leicht sich
helfendes Gemüt empfand den Druck einer
Schwermut, dem die Aussicht zum Glück
verschlossen ist. Ihr Herz war gepreßt, und
eine trübe Wolke lag über ihrem Auge.
So war es halb sieben geworden, als sie Werthern
die Treppe heraufkommen hörte und seinen
Tritt, seine Stimme, die nach ihr fragte, bald
erkannte. Wie schlug ihr Herz, und wir dürfen
fast sagen zum erstenmal, bei seiner Ankunft. Sie
hätte sich gern vor ihm verleugnen lassen, und
als er hereintrat, rief sie ihm mit einer Art von
leidenschaftlicher Verwirrung entgegen:"Sie haben
nicht Wort gehalten". -"Ich habe nichts
versprochen"war seine Antwort. -"So hätten Sie
wenigstens meiner Bitte stattgeben sollen",
versetzte sie,"ich bat Sie um unser beider
Ruhe".
Sie wußte nicht recht, was sie sagte,
ebensowenig was sie tat, als sie nach einigen
Freundinnen schickte, um nicht mit Werthern allein
zu sein. Er legte einige Bücher hin, die er
gebracht hatte, fragte nach andern, und sie
wünschte, bald daß ihre Freundinnen
kommen, bald daß sie wegbleiben möchten.
Das Mädchen kam zurück und brachte die
Nachricht, daß sich beide entschuldigen
ließen.
Sie wollte das Mädchen mit ihrer Arbeit in das
Nebenzimmer sitzen lassen; dann besann sie sich
wieder anders. Werther ging in der Stube auf und
ab, sie trat ans Klavier und fing eine Menuett an,
sie wollte nicht fließen. Sie nahm sich
zusammen und setzte sich gelassen zu Werthern, der
seinen gewöhnlchen Platz auf dem Kanapee
eingenommen hatte.
"Haben Sie nichts zu lesen?"sagte sie. - Er hatte
nichts. -"Da drin in meiner Schublade", fing sie
an,"liegt Ihre Übersetzung einiger
Gesänge Ossians; ich habe sie noch nicht
gelesen, denn ich hoffte immer, sie von Ihnen zu
hören; aber zeither hat sich's nicht finden,
nicht machen wollen". - Er lächelte, holte die
Lieder, ein Schauer überfiel ihn, als er sie
in die Hände nahm, und die Augen standen ihm
voll Tränen, als er hineinsah. Er setzte sich
nieder und las.
"Stern der dämmernden Nacht, schön
funkelst du in Westen, habst dein strahlend Haupt
aus deiner Wolke, wandelst stattlich deinen
Hügel hin. Wornach blickst du auf die Heide?
Die stürmenden Winde haben sich gelegt; von
ferne kommt des Gießbachs Murmeln; rauschende
Wellen spielen am Felsen ferne; das Gesumme der
Abendfliegen schwärmet übers Feld.
Wornach siehst du, schönes Licht? Aber du
lächelst und gehst, freudig umgeben dich die
Wellen und baden dein liebliches Haar. Lebe wohl,
ruhiger Strahl. Erscheine, du herrliches Licht von
Ossians Seele!
Und es erscheint in seiner Kraft. Ich sehe meine
geschiedenen Freunde, sie sammeln sich auf Lora,
wie in den Tagen, die vorüber sind. - Fingal
kommt wie eine feuchte Nebelsäule; um ihn sind
seine Helden, und, siehe! Die Barden des Gesanges:
grauer Ullin! Stattlicher Ryno! Alpin, lieblicher
Sänger! Und du, sanft klagende Minona! - Wie
verändert seid ihr, meine Freunde, seit den
festlichen Tagen auf Selma, da wir buhlten um die
Ehre des Gesanges, wie Frühlingslüfte den
Hügel hin wechselnd beugen das schwach
lispelnde Gras.
Da trat Minona hervor in ihrer Schönheit, mit
niedergeschlagenem Blick und tränenvollem
Auge, schwer floß ihr Haar im unsteten Winde,
der von dem Hügel herstieß. -
düster ward's in der Seele der Helden, als sie
die liebliche Stimme erhob; denn oft hatten sie das
Grab Salgars gesehen, oft die finstere Wohnung der
weißen Colma. Colma, verlassen auf dem
Hügel, mit der harmonischen Stimme; Salgar
versprach zu kommen; aber ringsum zog sich die
Nacht. Höret Colmas Stimme, da sie auf dem
Hügel allein saß.
Colma Es ist Nacht! - Ich bin allein, verloren auf
dem stürmischen Hügel. Der Wind saust im
Gebirge. Der Strom heult den Felsen hinab. Keine
Hütte schützt mich vor Regen, mich
Verlaßne auf dem stürmischen Hügel.
Tritt, o Mond, aus deinen Wolken, erscheinet,
Sterne der Nacht! Leite mich irgend ein Strahl zu
dem Orte, wo meine Liebe ruht von den Beschwerden
der Jagd, sein Bogen neben ihm abgespannt, seine
Hunde schnobend um ihn! Aber hier muß ich
sitzen allein auf dem Felsen des verwachsenen
Stroms. Der Strom und der Sturm saust, ich
höre nicht die Stimme meines Geliebten.
Warum zaudert mein Salgar? Hat er sein Wort
vergessen? - da ist der Fels und der Baum und hier
der rauschende Strom! Mit einbrechender Nacht
versprachst du hier zu sein; ach! Wohin hat sich
mein Salgar verirrt? Mit dir wollt' ich fliehen,
verlassen Vater und Bruder, die stolzen! Lange sind
unsere Geschlechter Feinde, aber wir sind keine
Feinde, o Salgar!
Schweig eine Weile, o Wind! Still eine kleine
Weile, o Strom, daß meine Stimme klinge
durchs Tal, daß mein Wanderer mich höre.
Salgar! Ich bin's, die ruft! Hier ist der Baum und
der Fels! Salgar! Mein Lieber! Hier bin ich; warum
zauderst du zu kommen?
Sieh, der Mond erscheint, die Flut glänzt im
Tale, die Felsen stehen grau den Hügel hinauf;
aber ich seh' ihn nicht auf der Höhe, seine
Hunde vor ihm her verkündigen nicht seine
Ankunft. Hier muß ich sitzen allein.
Aber wer sind, die dort unten liegen auf der Heide?
- Mein Geliebter? Mein Bruder? - Redet, o meine
Freunde! Sie antworten nicht. Wie geängstet
ist meine Seele! - Ach sie sind tot! Ihre Schwester
rot vom Gefechte! O mein Bruder, mein Bruder, warum
hast du meinen Salgar erschlagen? O mein Salgar,
warum hast du meinen Bruder erschlagen? Ihr wart
mir beide so lieb! O du warst schön an dem
Hügel unter Tausenden! Es war schrecklich in
der Schlacht. Antwortet mir! Hört meine
Stimme, meine Geliebten! Aber ach, sie sind stumm,
stumm auf ewig! Kalt wie die Erde ist ihr
Busen!
O von dem Felsen des Hügels, von dem Gipfel
des stürmenden Berges, redet, Geister der
Toten! Redet! Mir soll es nicht grausen! - wohin
seid ihr zur Ruhe gegangen? In welcher Gruft des
Gebirges soll ich euch finden? - keine schwache
Stimme vernehme ich im Winde, keine wehende Antwort
im Sturme des Hügels. Ich sitze in meinem
Jammer, ich harre auf den Morgen in meinen
Tränen. Wühlet das Grab, ihr Freunde der
Toten, aber schließt es nicht, bis ich komme.
Mein Leben schwindet wie ein Traum; wie sollt' ich
zurückbleiben! Hier will ich Felsens - wenn's
Nacht wird auf dem Hügel, und Wind kommt
über die Heide, soll mein Geist im Winde stehn
und trauern den Tod meiner Freunde. Der Jäger
hört mich aus seiner Laube, fürchtet
meine Stimme und liebt sie; denn süß
soll meine Stimme sein um meine Freunde, sie waren
mir beide so lieb!
Das war dein Gesang, o Minona, Tormans sanft
errötende Tochter. Unsere Tränen flossen
um Colma, und unsere Seele ward düster.
Ullin trat auf mit der Harfe und gab uns Alpins
Gesang - Alpins Stimme war freundlich, Rynos Seele
ein Feuerstrahl. Aber schon ruhten sie im engen
Hause, und ihre Stimme war verhallet in Selma.
Einst kehrte Ullin zurück von der Jagd, ehe
die Helden noch fielen. Er hörte ihren
Wettegesang auf dem Hügel. Ihr Lied war sanft,
aber traurig. Sie klagten Morars Fall, des ersten
der Helden. Seine Seele war wie Fingals Seele, sein
Schwert wie das Schwert Oskars - aber er fiel, und
sein Vater jammerte, und seiner Schwester Augen
waren voll Tränen, Minonas Augen waren voll
Tränen, der Schwester des herrlichen Morars.
Sie trat zurück vor Ullins Gesang, wie der
Mond in Westen, der den Sturmregen voraussieht und
sein schönes Haupt in eine Wolke verbirgt. -
Ich schlug die Harfe mit Ullin zum Gesange des
Jammers.
Ryno
Vorbei sind Wind und Regen, der Mittag ist so
heiter, die Wolken teilen sich. Fliehend bescheint
den Hügel die unbeständige Sonne.
Rötlich fließt der Strom des Bergs im
Tale hin. Süß ist dein Murmeln, Strom;
doch süßer die Stimme, die ich
höre. Es ist Alpins Stimme, er bejammert den
Toten. Sein Haupt ist vor Alter gebeugt und rot
sein tränendes Auge. Alpin, trefflicher
Sänger, warum allein auf dem schweigenden
Hügel? Warum jammerst du wie ein
Windstoß im Walde, wie eine Welle am fernen
Gestade?
Alpin
Meine Tränen, Ryno, sind für den Toten,
meine Stimme für die Bewohner des Grabs.
Schlank bist du auf dem Hügel, schön
unter den Söhnen der Heide. Aber du wirst
fallen wie Morar, und auf deinem Grabe wird der
Trauernde sitzen. Die Hügel werden dich
vergessen, dein Bogen in der Halle liegen
ungespannt.
Du warst schnell, o Morar, wie ein Reh auf dem
Hügel, schrecklich wie die Nachtfeuer am
Himmel. Dein Grimm war ein Sturm, dein Schwert in
der Schlacht wie Wetterleuchten über der
Heide. Deine Stimme glich dem Waldstrome nach dem
Regen, dem Donner auf fernen Hügeln. Manche
fielen von deinem Arm, die Flamme deines Grimmes
verzehrte sie. Aber wenn du wiederkehrtest vom
Kriege, wie friedlich war deine Stirne! Dein
Angesicht war gleich der Sonne nach dem Gewitter,
gleich dem Monde in der schweigenden Nacht, ruhig
deine Brust wie der See, wenn sich des Windes
Brausen gelegt hat.
Eng ist nun deine Wohnung, finster deine
Stätte! Mit drei Schritten mess' ich dein
Grab, o du, der du ehe so groß warst! Vier
Steine mit moosigen Häupten sind dein einziges
Gedächtnis; ein entblätterter Baum,
langes Gras, das im Winde wispelt, deutet dem Auge
des Jägers das Grab des mächtigen Morars.
Keine Mutter hast du, dich zu beweinen, kein
Mädchen mit Tränen der Liebe. Tot ist,
die dich gebar, gefallen die Tochter von
Morglan.
Wer auf seinem Stabe ist das? Wer ist es, dessen
Haupt weiß ist vor Alter, dessen Augen rot
sind von Tränen? Es ist dein Vater, o Morar,
der Vater keines Sohnes außer dir. Er
hörte von deinem Ruf in der Schlacht, er
hörte von zerstobenen Feinden; er hörte
Morars Ruhm! Ach! Nichts von seiner Wunde? Weine,
Vater Morars, weine! Aber dein Sohn hört dich
nicht. Tief ist der Schlaf der Toten, niedrig ihr
Kissen von Staube. Nimmer achtet er auf die Stimme,
nie erwacht er auf deinen Ruf. O wann wird es
Morgen im Grabe, zu bieten dem Schlummerer:
erwache!
Lebe wohl, edelster der Menschen, du Eroberer im
Felde! Aber nimmer wird dich das Feld sehen, nimmer
der düstere Wald leuchten vom Glanze deines
Stahls. Du hinterließest keinen Sohn, aber
der Gesang soll deinen Namen erhalten,
künftige Zeiten sollen von dir hören,
hören von dem gefallenen Morar.
Laut war die Trauer der Helden, am lautesten Armins
berstender Seufzer. Ihn erinnerte es an den Tod
seines Sohnes, er fiel in den Tagen der Jugend.
Carmor saß nah bei dem Helden, der Fürst
des hallenden Galmal. 'warum schluchzet der Seufzer
Armins?' sprach er, 'was ist hier zu weinen? Klingt
nicht ein Lied und ein Gesang, die Seele zu
schmelzen und zu ergetzen? Sie sind wie sanfter
Nebel, der steigend vom See aufs Tal sprüht,
und die blühenden Blumen füllet das
Naß; aber die Sonne kommt wieder in ihrer
Kraft, und der Nebel ist gegangen. Warum bist du so
jammervoll, Armin, Herrscher des seeumflossenen
Gorma?'
'Jammervoll! Wohl das bin ich, und nicht gering die
Ursache meines Wehs. - Carmor, du verlorst keinen
Sohn, verlorst keine blühende Tochter; Colgar,
der Tapfere, lebt, und Annira, die schönste
der Mädchen. Die Zweige deines Hauses
blühen, o Carmor; aber Armin ist der Letzte
seines Stammes. Finster ist dein Bett, o Daura!
Dumpf ist dein Schlaf in dem Grabe - wann erwachst
du mit deinen Gesängen, mit deiner melodischen
Stimme? Auf, ihr Winde des Herbstes! Auf,
stürmt über die finstere Heide!
Waldströme, braust! Heult, Ströme, im
Gipfel der Eichen! Wandle durch gebrochene Wolken,
o Mond, zeige wechselnd dein bleiches Gesicht!
Erinnre mich der schrecklichen Nacht, da meine
Kinder umkamen, da Arindal, der Mächtige,
fiel, Daura, die Liebe, verging.
Daura, meine Tochter, du warst schön,
schön wie der Mond auf den Hügeln von
Fura, weiß wie der gefallene Schnee,
süß wie die atmende Luft! Arindal, dein
Bogen war stark, dein Speer schnell auf dem Felde,
dein Blick wie Nebel auf der Welle, dein Schild
eine Feuerwolke im Sturme!
Armar, berühmt im Kriege, kam und warb um
Dauras Liebe; sie widerstand nicht lange.
Schön waren die Hoffnungen ihrer Freunde.
Erath, der Sohn Odgals, grollte, denn sein Bruder
lag erschlagen von Armar. Er kam, in einen Schiffer
verkleidet. Schön war sein Nachen auf der
Welle, weiß seine Locken vor Alter, ruhig
sein ernstes Gesicht. 'schönste Mädchen,'
sagte er, 'liebliche Tochter von Armin, dort am
Felsen, nicht fern in der See, wo die rote Frucht
vom Baume herblinkt, dort wartet Armar auf Daura:
ich komme, seine Liebe zu führen über die
rollende See.
'sie folgt' ihm und rief nach Armar; nichts
antwortete als die Stimme des Felsens. 'Armar! Mein
Lieber! Mein Lieber! Warum ängstest du mich
so? Höre, Sohn Arnarths! Höre! Daura
ist's, die dich ruft!
'Erath, der Verräter, floh lachend zum Lande.
Sie erhob ihre Stimme, rief nach ihrem Vater und
Bruder: 'Arindal! Armin! Ist keiner, seine Daura zu
retten?'
Ihre Stimme kam über die See. Arindal, mein
Sohn, stieg vom Hügel herab, rauh in der Beute
der Jagd, seine Pfeile rasselten an seiner Seite,
seinen Bogen trug er in der Hand, fünf
schwarzgraue Doggen waren um ihn. Er sah den
kühnen Erath am Ufer, faßt' und band ihn
an die Eiche, fest umflocht er seine Hüften,
der Gefesselte füllte mit Ächzen die
Winde.
Arindal betritt die Wellen in seinem Boote, Daura
herüber zu bringen. Armar kam in seinem
Grimme, drückt' ab den grau befiederten Pfeil,
er klang, er sank in dein Herz, o Arindal, mein
Sohn! Statt Eraths, des Verräters, kamst du
um, das Boot erreichte den Felsen, er sank dran
nieder und starb. Zu deinen Füßen
floß deines Bruders Blut, welch war dein
Jammer, o Daura! Die Wellen zerschmettern das Boot.
Armar stürzt sch in die See, seine Daura zu
retten oder zu sterben. Schnell stürmte ein
Stoß vom Hügel in die Wellen, er sank
und hob sich nicht wieder.
Allein auf den seebespülten Felsen hört'
ich die Klagen meiner Tochter. Viel und laut war
ihr Schreien, doch konnt' sie ihr Vater nicht
retten. Die ganze Nacht stand ich am Ufer, ich sah
sie im schwachen Strahle des Mondes, die ganze
Nacht hört' ich ihr Schreien, laut war der
Wind, und der Regen schlug scharf nach der Seite
des Berges. Ihre Stimme ward schwach, ehe der
Morgen erschien, sie starb weg wie die Abendluft
zwischen dem Grase der Felsen. Beladen mit Jammer
starb sie und ließ Armin allein! Dahin ist
meine Stärke im Kriege, gefallen mein Stolz
unter den Mädchen.
Wenn die Stürme des Berges kommen, wenn der
Nord die Wellen hochhebt, sitz' ich am schallenden
Ufer, schaue nach dem schrecklichen Felsen. Oft im
sinkenden Monde seh' ich die Geister meiner Kinder,
halb dämmernd wandeln sie zusammen in
traurigen Eintracht.'"
Ein Strom von Tränen, der aus Lottens Augen
brach und ihrem gepreßten Herzen Luft machte,
hemmte Werthers Gesang. Er warf das Papier hin,
faßte ihre Hand und weinte die bittersten
Tränen. Lotte ruhte auf der andern und verbarg
ihre Augen ins Schnupftuch. Die Bewegung beider war
fürchterlich. Sie fühlten ihr eigenes
Elend in dem Schicksale der Edlen, fühlten es
zusammen, und ihre Tränen vereinigten sich.
Die Lippen und Augen Werthers glühten an
Lottens Arme; ein Schauer überfiel sie; sie
wollte sich entfernen, und Schmerz und Anteil lagen
betäubend wie Blei auf ihr. Sie atmete, sich
zu erholen, und bat ihn schluchzend fortzufahren,
bat mit der ganzen Stimme des Himmels! Werther
zitterte, sein Herz wollte bersten, er hob das
Blatt auf und las halb gebrochen:
"Warum weckst du mich, Frühlingsluft? Du
buhlst und sprichst: ich betaue mit Tropfen des
Himmels! Aber die Zeit meines Welkens ist nahe,
nahe der Sturm, der meine Blätter
herabstört! Morgen wird der Wanderer kommen,
kommen der mich sah in meiner Schönheit,
ringsum wird sein Auge im Felde mich suchen und
wird mich nicht finden. -"
Die ganze Gewalt dieser Worte fiel über den
Unglücklichen. Er warf sich vor Lotten nieder
in der vollen Verzweifelung, faßte ihre
Hände, drückte sie in seine Augen, wider
seine Stirn, und ihr schien eine Ahnung seines
schrecklichen Vorhabens durch die Seele zu fliegen.
Ihre Sinne verwirrten sich, sie drückte seine
Hände, drückte sie wider ihre Brust,
neigte sich mit einer wehmütigen Bewegung zu
ihm, und ihre glühenden Wangen berührten
sich. Die Welt verging ihnen. Er schlang seine Arme
um sie her, preßte sie an seine Brust und
deckte ihre zitternden, stammelnden Lippen mit
wütenden Küssen. -"Werther!"rief sie mit
erstickter Stimme, sich abwendend,"Werther!", und
drückte mit schwacher Hand seine Brust von der
ihrigen;"Werther!"rief sie mit dem gefaßten
Tone des edelsten Gefühles. - Er widerstand
nicht, ließ sie sich aus seinen Armen und
warf sich unsinnig vor sie hin. - Sie riß
sich auf, und in ängstlicher Verwirrung,
bebend zwischen Liebe und Zorn, sagte sie:"das ist
das letzte Mal! Werther! Sie sehn mich nicht
wieder". Und mit dem vollsten Blick der Liebe auf
den Elenden eilte sie ins Nebenzimmer und
schloß hinter sich zu. - Werther streckte ihr
die Arme nach, getraute sich nicht, sie zu halten.
Er lag an der Erde, den Kopf auf dem Kanapee, und
in dieser Stellung blieb er über eine halbe
Stunde, bis ihn ein Geräusch zu sich selbst
rief. Es war das Mädchen, das den Tisch decken
wollte. Er ging im Zimmer auf und ab, und da er
sich wieder allein sah, ging er zur Türe des
Kabinetts und rief mit leiser Stimme:"Lotte! Lotte!
Nur noch ein Wort! Ein Lebewohl!"- sie schwieg. -
er harrte und bat und harrte; dann riß er
sich weg und rief:"lebe wohl, Lotte! Auf ewig lebe
wohl!"
Er kam ans Stadttor. Die Wächter, die ihn
schon gewohnt waren, ließen ihn
stillschweigend hinaus. Es stiebte zwischen Regen
und Schnee, und erst gegen eilfe klopfte er wieder.
Sein Diener bemerkte, als Werther nach Hause kam,
daß seinem Herrn der Hut fehlte. Er getraute
sich nicht, etwas zu sagen, entkleidete ihn, alles
war naß. Man hat nachher den Hut auf einem
Felsen, der an dem Abhange des Hügels ins Tal
sieht, gefunden, und es ist unbegreiflich, wie er
ihn in einer finstern, feuchten Nacht, ohne zu
stürzen, erstiegen hat.
Er legte sich zu Bette und schlief lange. Der
Bediente fand ihn schreibend, als er ihm den andern
Morgen auf sein Rufen den Kaffee brachte. Er
schrieb folgendes am Briefe an Lotten:
"Zum letztenmale denn, zum letztenmale schlage ich
diese Augen auf. Sie sollen, ach, die Sonne nicht
mehr sehn, ein trüber, neblichter Tag
hält sie bedeckt. So traure denn, Natur! Dein
Sohn, dein Freund, dein Geliebter naht sich seinem
Ende. Lotte, das ist ein Gefühl ohnegleichen,
und doch kommt es dem dämmernden Traum am
nächsten, zu sich zu sagen: das ist der letzte
Morgen. Der letzte! Lotte, ich habe keinen Sinn
für das Wort: der letzte! Stehe ich nicht da
in meiner ganzen Kraft, und morgen liege ich
ausgestreckt und schlaff am Boden. Sterben! Was
heißt das? Siehe, wir träumen, wenn wir
vom Tode reden. Ich habe manchen sterben sehen;
aber so eingeschränkt ist die Menschheit,
daß sie für ihres Daseins Anfang und
Ende keinen Sinn hat. Jetzt noch mein, dein! Dein,
o Geliebte! Und einen Augenblick - getrennt,
geschieden - vielleicht auf ewig? - nein, Lotte,
nein - wie kann ich vergehen? Wie kannst du
vergehen? Wir sind ja! - vergehen! - was
heißt das? Das ist wieder ein Wort, ein
leerer Schall, ohne Gefühl für mein Herz.
- - tot, Lotte! Eingescharrt der kalten Erde, so
eng! So finster! - ich hatte eine Freundin, die
mein alles war meiner hülflosen Jugend; sie
starb, und ich folgte ihrer Leiche und stand an dem
Grabe, wie sie den Sarg hinunterließen und
die Seile schnurrend unter ihm weg und wieder
herauf schnellten, dann die erste Schaufel
hinunterschollerte, und die ängstliche Lade
einen dumpfen Ton wiedergab, und dumpfer und immer
dumpfer, und endlich bedeckt war! - ich
stürzte neben das Grab hin - ergriffen,
erschüttert, geängstet, zerrissen mein
Innerstes, aber ich wußte nicht, wie mir
geschah - wie mir geschehen wird - Sterben! Grab!
Ich verstehe die Worte nicht!
O vergib mir! Vergib mir! Gestern! Es hätte
der letzte Augenblick meines Lebens sein sollen. O
du Engel! Zum ersten Male, zum ersten Male ganz
ohne Zweifel durch mein innig Innerstes
durchglühte mich das Wonnegefühl: sie
liebt mich! Sie liebt mich! Es brennt noch auf
meinen Lippen das heilige Feuer, das von den
deinigen strömte, neue, warme Wonne ist in
meinem Herzen. Vergib mir! Vergib mir!
Ach, ich wußte, daß du mich liebtest,
wußte es an den ersten seelenvollen Blicken,
an dem ersten Händedruck, und doch, wenn ich
wieder weg war, wenn ich Alberten an deiner Seite
sah, verzagte ich wieder in fieberhaften
Zweifeln.
Erinnerst du dich der Blumen, die du mir
schicktest, als du in jener fatalen Gesellschaft
mir kein Wort sagen, keine Hand reichen konntest?
O, ich habe die halbe Nacht davor gekniet, und sie
versiegelten mir deine Liebe. Aber ach! Diese
Eindrücke gingen vorüber, wie das
Gefühl der Gnade seines Gottes allmählich
wieder aus der Seele des Gläubigen weicht, die
ihm mit ganzer Himmelsfülle in heiligen,
sichtbaren Zeichen gereicht ward.
Alles das ist vergänglich, aber keine Ewigkeit
soll das glühende Leben auslöschen, das
ich gestern auf deinen Lippen genoß, das ich
in mir fühle! Sie liebt mich! Dieser Arm hat
sie umfaßt, diese Lippen haben auf ihren
Lippen gezittert, dieser Mund hat an dem ihrigen
gestammelt. Sie ist mein! Du bist mein! Ja, Lotte,
auf ewig.
Und was ist das, daß Albert dein Mann ist?
Mann! Das wäre denn für diese Welt - und
für diese Welt Sünde, daß ich dich
liebe, daß ich dich aus seinen Armen in die
meinigen reißen möchte? Sünde? Gut,
und ich strafe mich dafür; ich habe sie in
ihrer ganzen Himmelswonne geschmeckt, diese
Sünde, habe Lebensbalsam und Kraft in mein
Herz gesaugt. Du bist von diesem Augenblicke mein!
Mein, o Lotte! Ich gehe voran! Gehe zu meinem
Vater, zu deinem Vater. Dem will ich's klagen, und
er wird mich trösten, bis du kommst, und ich
fliege dir entgegen und fasse dich und bleibe bei
dir vor dem Angesichte des Unendlichen in ewigen
Umarmungen.
Ich träume nicht, ich wähne nicht! Nahe
am Grabe wird mir es heller. Wir werden sein! Wir
werden uns wieder sehen! Deine Mutter sehen! Ich
werde sie sehen, werde sie finden, ach, und vor ihr
mein ganzes Herz ausschütten! Deine Mutter,
dein Ebenbild".
Gegen eilfe fragte Werther seinen Bedienten, ob
wohl Albert zurückgekommen sei? Der Bediente
sagte: ja, er habe dessen Pferd dahinführen
sehen. Darauf gibt ihm der Herr ein offenes
Zettelchen des Inhalts: "wollten Sie mir wohl zu
einer vorhabenden Reise Ihre Pistolen leihen? Leben
Sie recht wohl!"
Die liebe Frau hatte die letzte Nacht wenig
geschlafen; was sie gefürchtet hatte, war
entschieden, auf eine Weise entschieden, die sie
weder ahnen noch fürchten konnte. Ihr sonst so
rein und leicht fließendes Blut war in einer
fieberhaften Empörung, tausenderlei
Mepfindungen zerrütteten das schöne Herz.
War es das Feuer von Werthers Umarmungen, das sie
in ihrem Busen fühlte? War es Unwille
über seine Verwegenheit? War es eine unmutige
Vergleichung ihres gegenwärtigen Zustandes mit
jenen Tagen ganz unbefangener, freier Unschuld und
sorglosen Zutrauens an sich selbst? Wie sollte sie
ihrem Manne entgegengehen, wie ihm eine Szene
bekennen, die sie so gut gestehen durfte, und die
sie sich doch zu gestehen nicht getraute? Sie
hatten so lange gegen einander geschwiegen, und
sollte sie die erste sein, die das Stillschweigen
bräche und eben zur unrechten Zeit ihrem
Gatten eine so unerwartete Entdeckung machte? Schon
fürchtete sie, die bloße Nachricht von
Werthers Besuch werde ihm einen unangenehmen
Eindruck machen, und nun gar diese unerwartete
Katastrophe! Konnte sie wohl hoffen, daß ihr
Mann sie ganz im rechten Lichte sehen, ganz ohne
Vorurteil aufnehmen würde? Und konnte sie
wünschen, daß er in ihrer Seele lesen
möchte? Und doch wieder, konnte sie sich
verstellen gegen den Mann, vor dem sie immer wie
ein kristallhelles Glas offen und frei gestanden
und dem sie keine ihrer Empfindungen jemals
verheimlicht noch verheimlichen können? Eins
und das andre machte ihr Sorgen und setzte sie in
Verlegenheit; und immer kehrten ihre Gedanken
wieder zu Werthern, der für sie verloren war,
den sie nicht lassen konnte, den sie - leider! -
sich selbst überlassen mußte, und dem,
wenn er sie verloren hatte, nichts mehr übrig
blieb.
Wie schwer lag jetzt, was sie sich in dem
Augenblick nicht deutlich machen konnte, die
Stockung auf ihr, die sich unter ihnen festgesetzt
hatte! So verständige, so gute Menschen fingen
wegen gewisser heimlicher Verschiedenheiten unter
einander zu schweigen an, jedes dachte seinem Recht
und dem Unrechte des andern nach, und die
Verhältnisse verwickelten und verhetzten sich
dergestalt, daß es unmöglich ward, den
Knoten eben in dem kritischen Momente, von dem
alles abhing, zu lösen. Hätte eine
glückliche Vertraulichkeit sie früher
wieder einander näher gebracht, wäre
Liebe und Nachsicht wechselsweise unter ihnen
lebendig worden und hätte ihre Herzen
aufgeschlossen, vielleicht wäre unser Freund
noch zu retten gewesen.
Nach Eilfe
Alles ist so still um mich her, und so ruhig meine
Seele. Ich danke dir, Gott, der du diesen letzten
Augenblicken diese Wärme, diese Kraft
schenkest.
Ich trete an das Fenster, meine Beste, und sehe,
und sehe noch durch die stürmenden,
vorüberfliehenden Wolken einzelne Sterne des
ewigen Himmels! Nein, ihr werdet nicht fallen! Der
Ewige trägt euch an seinem Herzen, und mich.
Ich sehe die Deichselsterne des Wagens, des
liebsten unter allen Gestirnen. Wenn ich nachts von
dir ging, wie ich aus deinem Tore trat, stand er
gegen mir über. Mit welcher Trunkenheit habe
ich ihn oft angesehen, oft mit aufgehabenen
Händen ihn zum Zeichen, zum heiligen
Merksteine meiner gegenwärtigen Seligkeit
gemacht! Und noch - o Lotte, was erinnert mich
nicht an dich! Umgibst du mich nicht! Und habe ich
nicht, gleich einem Kinde, ungenügsam allerlei
Kleinigkeiten zu mir gerissen, die du Heilige
berührt hattest!
Liebes Schattenbild! Ich vermache dir es
zurück, Lotte, und bitte dich, es zu ehren.
Tausend, tausend Küsse habe ich darauf
gedrückt, tausend Grüße ihm
zugewinkt, wenn ich ausging oder nach Hause kam.
Ich habe deinen Vater in einem Zettelchen gebeten,
meine Leiche zu schützen. Auf dem Kirchhofe
sind zwei Lindenbäume, hinten in der Ecke nach
dem Felde zu; dort wünsche ich zu ruhen. Er
kann, er wird das für seinen Freund tun. Bitte
ihn auch. Ich will frommen Christen nicht zumuten,
ihren Körper neben einen armen
Unglücklichen zu legen. Ach, ich wollte, ihr
begrübt mich am Wege, oder im einsamen Tale,
daß Priester und Levit vor dem bezeichneten
Steine sich segnend vorübergingen und der
Samariter eine Träne weinte.
Hier, Lotte! Ich schaudre nicht, den kalten,
schrecklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den
Taumel des Todes trinken soll! Du reichtest mir
ihn, und zage nicht. All! All! So sind alle die
Wünsche und Hoffnungen meines Lebens
erfüllt! So kalt, so starr an der ehernen
Pforte des Todes anzuklopfen.
Daß ich des Glückes hätte
teilhaftig werden können, für dich zu
sterben! Lotte, für dich mich hinzugeben! Ich
wollte mutig, ich wollte freudig sterben, wenn ich
dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens
wiederschaffen könnte. Aber ach! Das ward nur
wenigen Edeln gegeben, ihr Blut für die
Ihrigen zu vergießen und durch ihren Tod ein
neues, hundertfältiges Leben ihren Freunden
anzufachen.
In diesen Kleidern, Lotte, will ich begraben sein,
du hast sie berührt, geheiligt; ich habe auch
deinen Vater darum gebeten. Meine Seele schwebt
über dem Sarge. Man soll meine Taschen nicht
aussuchen. Diese blaßrote Schleife, die du am
Busen hattest, als ich dich zum ersten Male unter
deinen Kindern fand - o küsse sie tausendmal
und erzähle ihnen das Schicksal ihres
unglücklichen Freundes. Die Lieben! Sie
wimmeln um mich. Ach wie ich mich an dich
schloß! Seit dem ersten Augenblicke dich
nicht lassen konnte! - diese Schleife soll mit mir
begraben werden. An meinem Geburtstage schenktest
du sie mir! Wie ich das alles verschlang! - ach,
ich dachte nicht, daß mich der Weg hierher
führen sollte! - - sei ruhig! Ich bitte dich,
sei ruhig!
- Sie sind geladen - es schlägt zwölfe!
So sei es denn! - Lotte! Lotte, lebe wohl! Lebe
wohl!"
Ein Nachbar sah den Blick vom Pulver und hörte
den Schuß fallen; da aber alles stille blieb,
achtete er nicht weiter drauf.
Morgens um sechse tritt der Bediente herein mit dem
Lichte. Er findet seinen Herrn an der Erde, die
Pistole und Blut. Er ruft, er faßt ihn an;
keine Antwort, er röchelt nur noch. Er
läuft nach den Ärzten, nach Alberten.
Lotte hört die Schelle ziehen, ein Zittern
ergreift alle ihre Glieder. Sie weckt ihren Mann,
sie stehen auf, der Bediente bringt heulend und
stotternd die Nachricht, Lotte sinkt
ohnmöchtig vor Alberten nieder.
Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand
er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug,
die Glieder waren alle gelähmt. Über dem
rechten Auge hatte er sich durch den Kopf
geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man
ließ ihm zum Überfluß eine Ader am
Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem.
Aus dem Blut auf der Lehne des Sessels konnte man
schließen, er habe sitzend vor dem
Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er
heruntergesunken, hat sich konvulsivisch um den
Stuhl herumgewälzt. Er lag gegen das Fenster
entkräftet auf dem Rücken, war in
völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack
mit gelber Weste.
Das Haus, die Nachbarschaft, die Stadt kam in
Aufruhr. Albert trat herein. Werthern hatte man auf
das Bett gelegt, die Stirn verbunden, sein Gesicht
schon wie eines Toten, er rührte kein Glied.
Die Lunge röchelte noch fürchterlich,
bald schwach, bald stärker; man erwartete sein
Ende.
Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken.„
Emilia Galotti" lag auf dem Pulte
aufgeschlagen.
Von Alberts Bestürzung, von Lottens Jammer
laßt mich nichts sagen.
Der alte Amtmann kam auf die Nachricht
hereingesprengt, er küßte den Sterbenden
unter den heißesten Tränen. Seine
ältesten Söhne kamen bald nach ihm zu
Fuße, sie fielen neben dem Bette nieder im
Ausdrucke des unbändigsten Schmerzens,
küßten ihm die Hände und den Mund,
und der älteste, den er immer am meisten
geliebt, hing an seinen Lippen, bis er verschieden
war und man den Knaben mit Gewalt wegriß. Um
zwölfe mittags starb er. Die Gegenwart des
Amtmannes und seine Anstalten tuschten einen
Auflauf. Nachts gegen eilfe ließ er ihn an
die Stätte begraben, die er sich erwählt
hatte. Der Alte folgte der Leiche und die
Söhne, Albert vermocht's nicht. Man
fürchtete für Lottens Leben. Handwerker
trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.
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