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erstellt: Juli 2000 von Martin Schlu
Johann Wolfgang von Goethe
Werthers Leiden, 2. Buch
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Der
Herausgeber an den Leser I >>
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Der Herausgeber an den
Leser
Wie sehr wünscht' ich, daß uns von
den letzten merkwürdigen Tagen unsers Freundes
so viel eigenhändige Zeugnisse übrig
geblieben wären, daß ich nicht
nötig hätte, die Folge seiner
hinterlaßnen Briefe durch Erzählung zu
unterbrechen.
Ich habe mir angelegen sein lassen, genaue
Nachrichten aus dem Munde derer zu sammeln, die von
seiner Geschichte wohl unterrichtet sein konnten;
sie ist einfach, und es kommen alle
Erzählungen davon bis auf wenige Kleinigkeiten
miteinander überein; nur über die
Sinnesarten der handelnden Personen sind die
Meinungen verschieden und die Urteile geteilt.
Was bleibt uns übrig, als dasjenige, was wir
mit wiederholter Mühe erfahren können,
gewissenhaft zu erzählen, die von dem
Abscheidenden hinterlaßnen Briefe
einzuschalten und das kleinste aufgefundene
Blättchen nicht gering zu achten; zumal da es
so schwer ist, die eigensten, wahren Triebfedern
auch nur einer einzelnen Handlung zu entdecken,
wenn sie unter Menschen vorgeht, die nicht gemeiner
Art sind.
Unmut und Unlust hatten in Werthers Seele immer
tiefer Wurzel geschlagen, sich fester untereinander
verschlungen und sein ganzes Wesen nach und nach
eingenommen. Die Harmonie seines Geistes war
völlig zerstört, eine innerliche Hitze
und Heftigkeit, die alle Kräfte seiner Natur
durcheinanderarbeitete, brachte die widrigsten
Wirkungen hervor und ließ ihm zuletzt nur
eine Ermattung übrig, aus der er noch
ängstlicher empor strebte, als er mit allen
Übeln bisher gekämpft hatte. Die
Beängstigung seines Herzens zehrte die
übrigen Kräfte seines Geistes, seine
Lebhaftigkeit, seinen Scharfsinn auf, er ward ein
trauriger Gesellschafter, immer unglücklicher,
und immer ungerechter, je unglücklicher er
ward. Wenigstens sagen dies Alberts Freunde; sie
behaupten, daß Werther einen reinen, ruhigen
Mann, der nun eines lang gewünschten
Glückes teilhaftig geworden, und sein
Betragen, sich dieses Glück auch auf die
Zukunft zu erhalten, nicht habe beurteilen
können, er, der gleichsam mit jedem Tage sein
ganzes Vermögen verzehrte, um an dem Abend zu
leiden und zu darben. Albert, sagen sie, hatte sich
in so kurzer Zeit nicht verändert, er war noch
immer derselbige, den Werther so vom Anfang her
kannte, so sehr schätzte und ehrte. Er liebte
Lotten über alles, er war stolz auf sie und
wünschte sie auch von jedermann als das
herrlichste Geschöpf anerkannt zu wissen. War
es ihm daher zu verdenken, wenn er auch jeden
Schein des Verdachtes abzuwenden wünschte,
wenn er in dem Augenblicke mit niemand diesen
köstlichen Besitz auch auf die unschuldigste
Weise zu teilen Lust hatte? Sie gestehen ein,
daß Albert oft das Zimmer seiner Frau
verlassen, wenn Werther bei ihr war, aber nicht aus
Haß noch Abneigung gegen seinen Freund,
sondern nur weil er gefühlt habe, daß
dieser von seiner Gegenwart gedrückt sei.
Lottens Vater war von einem Übel befallen
worden, das ihn in der Stube hielt, er schickte ihr
seinen Wagen, und sie fuhr hinaus. Es war ein
schöner Wintertag, der erste Schnee war stark
gefallen und deckte die ganze Gegend.
Werther ging ihr den andern Morgen nach, um, wenn
Albert sie nicht abzuholen käme, sie
hereinzubegleiten.
Das klare Wetter konnte wenig auf sein trübes
Gemüt wirken, ein dumpfer Druck auf seiner
Seele, die traurigen Bilder hatten sich bei ihm
festgesetzt, und sein Gemüt kannte keine
Bewegung als von einem schmerzlichen Gedanken zum
andern.
Wie er mit sich in ewigem Unfrieden lebte, schien
ihm auch der Zustand andrer nur bedenklicher und
verworrner, er glaubte, das schöne
Verhältnis zwischen Albert und seiner Gattin
gestört zu haben, er machte sich Vorwürfe
darüber, in die sich ein heimlicher Unwille
gegen den Gatten mischte.
Seine Gedanken fielen auch unterwegs auf diesen
Gegenstand. "Ja, ja, "sagte er zu sich selbst, mit
heimlichem Zähneknirschen, "das ist der
vertraute, freundliche, zärtliche, an allem
teilnehmende Umgang, die ruhige, dauernde Treue!
Sattigkeit ist's und Gleichgültigkeit! Zieht
ihn nicht jedes elende Geschäft mehr an als
die teure, köstliche Frau? Weiß er sein
Glück zu schätzen? Weiß er sie zu
achten, wie sie es verdient? Er hat sie, nun gut,
er hat sie - ich weiß das, wie ich was anders
auch weiß, ich glaube an den Gedanken
gewöhnt zu sein, er wird mich noch rasend
machen, er wird mich noch umbringen - und hat denn
die Freundschaft zu mir Stich gehalten? Sieht er
nicht in meiner Anhänglichkeit an Lotten schon
einen Eingriff in seine Rechte, in meiner
Aufmerksamkeit für sie einen Stillen Vorwurf?
Ich weiß es wohl, ich fühl' es, er sieht
mich ungern, er wünscht meine Entfernung,
meine Gegenwart ist ihm beschwerlich".
Oft hielt er seinen raschen Schritt an, oft stand
er stille und schien umkehren zu wollen; allein er
richtete seinen Gang immer wieder vorwärts und
war mit diesen Gedanken und Selbstgesprächen
endlich gleichsam wider Willen bei dem Jagdhause
angekommen.
Er trat in die Tür, fragte nach dem Alten und
nach Lotten, er fand das Haus in einiger Bewegung.
Der älteste Knabe sagte ihm, es sei
drüben in Wahlheim ein Unglück geschehn,
es sei ein Bauer erschlagen worden! - Es machte das
weiter keinen Eindruck auf ihn. - Er trat in die
Stube und fand Lotten beschäftigt, dem Alten
zuzureden, der ungeachtet seiner Krankheit
hinüber wollte, um an Ort und Stelle die Tat
zu untersuchen. Der Täter war noch unbekannt,
man hatte den Erschlagenen des Morgens vor der
Haustür gefunden, man hatte Mutmaßungen:
der Entleibte war Knecht einer Witwe, die vorher
einen andern im Dienste gehabt, der mit Unfrieden
aus dem Hause gekommen war.
Da Werther dieses hörte, fuhr er mit
Heftigkeit auf. - "Ist's möglich!" rief er
aus, "ich muß hinüber, ich kann nicht
einen Augenblick ruhn". - Er eilte nach Wahlheim
zu, jede Erinnerung ward ihm lebendig, und er
zweifelte nicht einen Augenblick, daß jener
Mensch die Tat begangen, den er so manchmal
gesprochen, der ihm so wert geworden war.
Da er durch die Linden mußte, um nach der
Schenke zu kommen, wo sie den Körper hingelegt
hatten, entsetzt' er sich vor dem sonst so
geliebten Platze. Jene Schwelle, worauf die
Nachbarskinder so oft gespielt hatten, war mit Blut
besudelt. Liebe und Treue, die schönsten
menschlichen Empfindungen, hatten sich in Gewalt
und Mord verwandelt. Die starken Bäume standen
ohne Laub und bereift, die schönen Hecken, die
sich über die niedrige Kirchhofmauer
wölbten, waren entblättert, und die
Grabsteine sahen mit Schnee bedeckt durch die
Lücken hervor.
Als er sich der Schenke näherte, vor welcher
das ganze Dorf versammelt war, entstand auf einmal
ein Geschrei. Man erblickte von fern einen Trupp
bewaffneter Männer, und ein jeder rief,
daß man den Täter herbeiführe.
Werther sah hin und blieb nicht lange zweifelhaft.
Ja, es war der Knecht, der jene Witwe so sehr
liebte, den er vor einiger Zeit mit dem stillen
Grimme, mit der heimlichen Verzweiflung umhergehend
angetroffen hatte.
"Was hast du begangen, Unglücklicher!" rief
Werther aus, indem er auf den Gefangenen losging. -
Dieser sah ihn still an, schwieg und versetzte
endlich ganz gelassen: "keiner wird sie haben, sie
wird keinen haben". - man brachte den Gefangnen in
die Schenke, und Werther eilte fort.
Durch die entsetzliche, gewaltige Berührung
war alles, was in seinem Wesen lag,
durcheinandergeschüttelt worden. Aus seiner
Trauer, seinem Mißmut, seiner
gleichgültigen Hingegebenheit wurde er auf
einen Augenblick herausgerissen;
unüberwindlich bemächtigte sich die
Teilnehmung seiner, und es ergriff ihn eine
unsägliche Begierde, den Menschen zu retten.
Er fühlte ihn so unglücklich, er fand ihn
als Verbrecher selbst so schuldlos, er setzte sich
so tief in seine Lage, daß er gewiß
glaubte, auch andere davon zu überzeugen.
Schon wünschte er für ihn sprechen zu
können, schon drängte sich der
lebhafteste Vortrag nach seinen Lippen, er eilte
nach dem Jagdhause und konnte sich unterwegs nicht
enthalten, alles das, was er dem Amtmann vorstellen
wollte, schon halblaut auszusprechen.
Als er in die Stube trat, fand er Alberten
gegenwärtig, dies verstimmte ihn einen
Augenblick; doch faßte er sich ald wieder und
trug dem Amtmann feurig seine Gesinnungen vor.
Dieser schüttelte einigemal den Kopf, und
obgleich Werther mit der größten
Lebhaftigkeit, Leidenschaft und Wahrheit alles
vorbrachte, was ein Mensch zur Entschuldigung eines
Menschen sagen kann, so war doch, wie sich's leicht
denken läßt, der Amtmann dadurch nicht
gerührt. Er ließ vielmehr unsern Freund
nicht ausreden, widersprach ihm eifrig und tadelte
ihn, daß er einen Meuchelmörder in
Schutz nehme; er zeigte ihm, daß auf diese
Weise jedes Gesetz aufgehoben, alle Sicherheit des
Staats zugrund gerichtet werde; auch setzte er
hinzu, daß er in einer solchen Sache nichts
tun könne, ohne sich die größte
Verantwortung aufzuladen, es müsse alles in
der Ordnung, in dem vorgeschriebenen Gang
gehen.
Werther ergab sich noch nicht, sondern bat nur, der
Amtmann möchte durch die Finger sehn, wenn man
dem Menschen zur Flucht behülflich wäre!
Auch damit wies ihn der Amtmann ab. Albert, der
sich endlich ins Gespräch mischte, trat auch
auf des Alten Seite. Werther wurde überstimmt,
und mit einem entsetzlichen Leiden machte er sich
auf den Weg, nachdem ihm der Amtmann einigemal
gesagt hatte: "nein, er ist nicht zu retten!"
Wie sehr ihm diese Worte aufgefallen sein
müssen, sehn wir aus einem Zettelchen, das
sich unter seinen Papieren fand und das gewiß
an dem nämlichen Tage geschrieben worden:
"Du bist nicht zu retten, Unglücklicher! Ich
sehe wohl, daß wir nicht zu retten sind".
Was Albert zuletzt über die Sache des
Gefangenen in Gegenwart des Amtmanns gesprochen,
war Werthern höchst zuwider gewesen: er
glaubte einige Empfindlichkeit gegen sich darin
bemerkt zu haben, und wenn gleich bei mehrerem
Nachdenken seinem Scharfsinne nicht entging,
daß beide Männer recht haben
möchten, so war es ihm doch, als ob er seinem
innersten Dasein entsagen müßte, wenn er
es gestehen, wenn er es zugeben sollte.
Ein Blättchen, das sich darauf bezieht, das
vielleicht sein ganzes Verhältnis zu Albert
ausdrückt, finden wir unter seinen Papieren:
"was hilft es, daß ich mir's sage und wieder
sage, er ist brav und gut, aber es zerreißt
mir mein inneres Eingeweide; ich kann nicht gerecht
sein".
Weil es ein gelinder Abend war und das Wetter
anfing, sich zum Tauen zu neigen, ging Lotte mit
Alberten zu Fuße zurück. Unterwegs sah
sie sich hier und da um, eben als wenn sie Werthers
Begleitung vermißte. Albert fing von ihm an
zu reden, er tadelte ihn, indem er ihm
Gerechtigkeit widerfahren ließ. Er
berührte seine unglückliche Leidenschaft
und wünschte, daß es möglich sein
möchte, ihn zu entfernen. - "ich wünsch'
es auch um unsertwillen, "sagt' er, "und ich
bitte dich, "fuhr er fort, "siehe zu, seinem
Betragen gegen dich eine andere Richtung zu geben,
seine öftern Besuche zu vermindern. Die Leute
werden aufmerksam, und ich weiß, daß
man hier und da drüber gesprochen hat". -
Lotte schwieg, und Albert schien ihr Schweigen
empfunden zu haben, wenigstens seit der Zeit
erwähnte er Werthers nicht mehr gegen sie, und
wenn sie seiner erwähnte, ließ er das
Gespräch fallen oder lenkte es woanders
hin.
Der vergebliche Versuch, den Werther zur Rettung
des Unglücklichen gemacht hatte, war das
letzte Auflodern der Flamme eines
verlöschenden Lichtes; er versank nur desto
tiefer in Schmerz und Untätigkeit; besonders
kam er fast außer sich, als er hörte,
daß man ihn vielleicht gar zum Zeugen gegen
den Menschen, der sich nun aufs Leugnen legte,
auffordern könnte.
Alles was ihm Unangenehmes jeweils in seinem
wirksamen Leben begegnet war, der Verdruß bei
der Gesandtschaft, alles was ihm sonst
mißlungen war, was ihn je gekränkt
hatte, ging in seiner Seele auf und nieder. Er fand
sich durch alles dieses wie zur Untätigkeit
berechtigt, er fand sich abgeschnitten von aller
Aussicht, unfähig, irgendeine Handhabe zu
ergreifen, mit denen man die Geschäfte des
gemeinen Lebens anfaßt; und so rückte er
endlich, ganz seiner wunderbaren Empfindung,
Denkart und einer endlosen Leidenschaft hingegeben,
in dem ewigen Einerlei eines traurigen Umgangs mit
dem liebenswürdigen und geliebten
Geschöpfe, dessen Ruhe er störte, in
seine Kräfte stürmend, sie ohne Zweck und
Aussicht abarbeitend, immer einem traurigen Ende
näher.
Von seiner Verworrenheit, Leidenschaft, von seinem
rastlosen Treiben und Streben, von seiner
Lebensmüde sind einige hinterlaßne
Briefe die stärksten Zeugnisse, die wir hier
einrücken wollen.
weiter zum 12. September
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