Spätrenaissance
Venezianische
Musik
Anfangsseite
Biographie
G, Gabrielis
Kompositionslehre
Gabrielis
1.
Hintergründe
2.
Theorie
3.
Aufführungspraxis
4.
Beispiele
4.1."Miserere
mei",1587
4.2."Deus,
Deus meus",1587
4.3."Canzon
7° Toni Nr. 1" 1597
4.4."Canzon
4° Toni",
1597
4.5."Misericordias
Domini",1597
4.6."Kyrie",
1597/1615
5.
Zusammenfassung
6.
Literatur
|
4.5.
Beispiel einer kontrapunktisch-homophonen
Mischform:
"Misericordias Domini"("Sacrae Symphoniae" 1597,
Nr. 12)
aus:
Kompositionstechnik und Aufführungspraxis
mehrchöriger Werke der venetianischen
Spätrenaissance - dargestellt am Beispiel
Giovanni Gabrielis in San Marco/Venedig.
Überarbeitete Staatsarbeit von Martin
Schlu, Bonn 1984 / 18.7. 2008
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- Analyse
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- Arbeitspartitur
(Takt 1 - Takt
35)
- (S.126)
In dieser Komposition
finden sich Elemente, die bereits in besprochenene Werken
schwerpunktmäßig Gegenstand einer Besprechung
waren. Einerseits wird hier kontrapunktisch und
thematisch begonnen (vgl. "Canzon
7° Toni Nr. 1")
- und das gradlinige zweizeilige Canzonenmotiv ist in
seiner phrygischen Tonart rhythmisch leicht zu erfassen -
,
-
- andererseits wird der
eher zweizeilige Hauptrhthmus durch einen "integor
valor" wieder aufgehoben, gerade, nachdem die
Thematik in den Stimmen des zweiten Chores vorgestellt
wurde (T 11f).
(Notenbeispiel)
- Einerseits werden
Chorblöcke gegeneinander gesetzt (T 20-32),
andererseits ist eine motivische achtstimmige
Einarbeitung vorhanden (T 36, 43f), außerdem sind
eindeutige Echo-Effekte einkomponiert. MIDI-File
-
- Die Schlüsselung
gibt für die Hauptstimmen eine Normalbezeichnung an,
so daß nicht zu transponiert werden braucht. Die
beiden Chöre teilen sich in einen höheren und
einen tieferen Chor, dennoch ist der "coro grave"
kein ausschließlicher Instrumentalchor mit
Posaunen, obwohl dies die Schlüsselung (ATTB)
nahelegt. Die zumindest teilweise vokale Besetzung ergibt
sich aus dem Umstand, daß der Ersteinsatz des
"coro superior" bereits eine textliche
Fortführung des Anfangs darstellt und ohne
Vokalbesetzung des "coro grave" nicht
verständlich wäre. Es ergibt sich also die
Notwendigkeit einer Mischbesetzung, wie z.B.:
-
Choro
1
|
C
Cantus
|
Sopranschlüssel
|
Sopran mit
Instrument
|
Altposaune
|
|
A
Altus
|
Mezzosopranschlüssel
|
instrumental
oder vokal
|
Tenorposaune
|
|
5
Quintus
|
Altschlüssel
|
vokal oder
instrumental
|
Tenorposaune
|
|
T
Tenore
|
Tenorschlüssel
|
|
vokal
|
|
|
|
|
|
Choro
2
|
7
Settimus
|
Altschlüssel
|
instrumental
|
Viola da
Gamba oder Posaune
|
|
8
Octavus
|
Tenorschlüssel
|
|
vokal
|
|
6
Sextus
|
Tenorschlüssel
|
vokal und
instrumental
|
Tenorposaune
|
|
B
Basso
|
Baßschlüssel
|
instrumental
|
Posaune evtl.
mit Lirone
|
-
- Analyse
-
Seitenanfang
- (S.131)
Die Worte
"Misericordias Domini (Die Barmherzigkeit des Herrn, Ps.
89) sind überraschenderweise in die Tonart der Klage
(hypolydisch, 6° Tono) gesetzt worden, obwohl es
sich bei diesem Text um einen Lobgesang handelt.
-
- Misericordias
Domini in aeternum cantabo
in generationem et generationem annunciabo
veritatem tuam in ore meo quoniam dixisti in
aeternum
- misericordia
aedificabitur in caelis
-
- Übersetzung:
-
- Die
Barmherzigkeit des Herrn will ich in Ewigkeit
preisen,
durch Kinder und Kindeskinder will ich
Deine Wahrheit in meinen Gebeten bis in alle
Ewigkeit verkünden,
als die Barmherzigkeit, mit der der Himmel gebaut
wird.
-
- Das könnte ein
Beleg für die Loslösung Gabrielis von der
traditionellen Affektenlehre bedeuten, muß aber
nicht allgemein gelten. Das Phyrgische und das
Hypophrygische gelten danach offenbar nicht mehr als
allgemein jammervoll, sondern werden offenbar verwendet,
um eine feierliche Stimmung auszudrücken, die mit
dem Dorischen nicht mehr erreicht werden kann, weil es zu
abgenutzt klingt. Es drängt sich wieder der
Vergleich zur "Canzon 4° Toni" auf, die - trotz
ihres Namens - eben nicht im vierten Ton steht, sondern
sich davon gelöst hat (vgl. S. 113).
Die Thematik des Settimus weist eine Zweiteilung mit
einer Steigerung auf:
-
-
- Dieses
Thema wird schon während der Vorstellung von den
anderen Stimmen des "coro grave" aufgenommen und
verändert. Es kommt allerdings nicht zu einer
Durchführung, denn als alle vier Stimmen des
"coro grave" zusdammengeführt werden, hat
bereits im "coro superior" ein versetzter
"integor valor" begonnen. Würde man jeweils
drei Achtel zu einem Schlag zusammenfassen ("proportio
tripla"), wäre das Metrum nicht mehr zu
ermitteln
-
- (S.132)
Weil das Metrum der
Viertel zwar weitergedacht wird, die Schwerpunktsetzug
jedoch auf punktierten Vierteln parallel geschieht,
bleibt der Grundschlag noch vorhanden. Er wird aber durch
den eingeschobenen "integor valor" überdeckt
und es entsteht gleichzeitig der Eindruck eines
Dreierwertes. Wird die Viertel bestont gespielt, ergibt
sich ein schwebender Rhythmus, der kurzzeitig das zuvor
gespielte Metrum relativiert. Diese rhythmische Feinheit
wird bereits vor der eigentlichen Chorablösung
weitergeführt: der Settimus übernimmt diese
Motivik und die Stimmen Octavus, Sesto und Basso setzen
akkordisch mit einer punktierten Viertel ein, bei der
offen bleibt, ob sie dreizeitig oder zweizeitig betont
werden soll.
- In Anbetracht der
Kompositionslage würde ich als Chorleiter Takt 13
noch als integrierten 3/8-Rhythmus betonen und die
Rückführung auf das Metrum erst einen Takt
später beginnen lassen (übrigens interessant,
diese Symbolik des "aeternum cantabo" als
"perfecta", als dreiteilige Phrase zu
komponieren). Takt 18 bringt wieder eine homophone
Partie: "in aeternum" erscheint diesmal als Chorblock des
"coro grave" mit anschließender Echoweirkung
des "coro superior" und in Takt 20f erscheint eine
Dreiachteleinheit - diesmal betont zweizeitig,
vergleichbar mit dem Schluß der "Canzon 7°
Toni" .
-
|
|
Misericordias D.
(T
20f) zweizeitige
Dreiachteleinheiten
|
7° Toni Nr. 1
-
zweizeitige
Dreiachteleinheiten
|
- Diese Zweizeitigkeit
hält an bis T25 ("annunciabo"), dann wird sofort
wieder ein "integor valor" angedeutet, der jedoch
nicht furchgehalten wird. Ab T29f ist die Mischform
komplett: während der "coro grave" als
akkordische Stütze den Satz zusammenhält und
den Klang gibt, ist der "coro superior"
polyrhythmisch gehalten und übernimmt
anschließend eine Echofunktion ("dixisti"),
anschließend singen beide Chöre ihr eigenes
Echo ("in aeternum").
-
-
- Weitere
Beispiele für eine parallele Verwendung von Zwei-
und Dreizeitigkeit finden sich in T35f, wo eine
zweizeitige Dreiachteleinheit auf einen "integor
valor" vorbereitet und (S.133)
die versetzten
3/8-Einheiten die Betonung auf die nachfolgende Note
lenken. Da es sich dabei um eine Punktierte handelt, wird
die Betonung noch stärker. Durch diese sukzessive
Anordnung entsteht ein gleichmäßiges betontes
Metrum, das regelrecht zu einem Ruhepunkt drängt. In
Takt 37 haben dann vier Stimmen zur gleichen Zeit eine
Betonung auf eine imaginäre "Zwei", doch da der
nächste Ruhepunkt wieder auf eine "Eins" fällt,
entsteht wiederum ein "integor valor"
:
-
-
-
-
- Fazit
Seitenanfang
- (S.134)
Gabrielis Motette
"Misericordias Dominis" hat als kompositorisches Merkmal
die bewußte Gleichzeitigkeit von Zwei- und
Dreizeitigkeit ("tempus perfectum" und tempus
imperfectum") und die Verbindung von alter Polyphonie
und modernerer Homophonie. Durch die kontrapunktischen
Einschübe wird die in den homophonen Abschnitten
erreichte Echowirkung verschleiert und durch den in San
Marco gegebenen Nachhall akustisch deutlich, daß
die hörbaren Motive eher zeitlos wirken: (Takte 10f,
19f, 25.f, 35f und 43f). Es ist nicht genau zu erkennen,
was Echomotiv, Nachhall und neue kompositorische Phrase
sein soll. Kompositorisch wird dies durch kurze
Themenköpfe erreicht, die gerade so lange erklingen
wie die vom Raum erzeugten Hall- und Echowirkungen. Raum
und Klang werden eins und symbolisieren die Ewigkeit der
göttlichen Barmherzigkeit, die akustisch
allgegenwärtig erscheint. Betont wird dies auch
durch die Mischbesetzung von vokalen und instrumentalen
Stimmen, die eine diffuse Mystik erzeugen, die Worte
jedoch nicht überdecken.
-
- Meiner Meinung nach
liegt hier eine optimale Wortausdeutung nach
traditioneller Affektenlehre vor, verstärkt durch
die bauliche Anlage der Basilika San Marco und
kompositorisch so angelegt, daß sie für den
Raum maßgeschneidert ist. Die
Aufführungspraxis hat die Kompositition also
bedingt.
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