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Verschiedenes - Editorial


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Editorial - Briefe an die Leser
Gesammelter Senf zu aktuellen Themen
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Legebatterien und Supermarktgesellschaft
Beim Aufräumen fand ich einen Text von 1987 und stellte fest, daß sich außer einer neuen Währung und einigen Zahlen im Prinzip nichts verändert hat...
30. Juli 1987
 
Liebe Leser,
 
In letzter Zeit hört man immer wieder, daß es der Wirtschaft so gut geht, daß der Aufschwung (endlich, endlich) geklappt hat - Friede, Freude und Eierkuchen überall. Und in der Tat gibt es auf einmal Lehrstellen, fast überall werden offene Stellen angeboten und ich müßte eigentlich zufrieden sein ("eigentlich" beinhaltet ja schon ein "aber"), wenn nicht....
 
- die offenen Stellen größtenteils für Verkäuferinnen, Kassiererinnen, Außendienstmitarbeiter (Klinkenputzen für Versicherung, Zeitschriftenvertrieb und Tiefkühlkost) wären, deren berufliche Qualifikation von jedem abgebrochenen Hauptschüler spielend erreicht wird ;
 
- die interessanten Stellen z.B. in der "Zeit", der "Süddeutschen" oder in Regionalblättern leider, leider für dreißigjährige Doktoranden mit zehn Jahren Berufserfahrung vorbehalten wären, die außer dem Fremdsprachenstandard Englisch, Französisch und Spanisch doch, bitte schön, noch eine weitere, ausgefallenen Sprache können sollten;
 
- immer wieder regelmäßig Briefe meiner Bank kämen, in denen ich ich ermahnt werde, mein überzogenes Konto in Höhe von DM 143,32 innerhalb der nächsten Tage auszugleichen. Ein mündliches Gespräch mit der zuständigen Sachbearbeiterin bringt nicht viel. Suchen Sie sich doch einfach eine Stelle, sagt sie, es gibt doch soviele, dann müssen wir Sie nicht immer anschreiben.
 
Ich weiß, daß es meine Schuld ist - ich hätte niemals mein Studium zu Ende bringen dürfen, schon gar nicht bis zum zweiten Staatsexamen. Alle großen Männer sind nur etwas geworden, weil sie nicht Lehrer geworden sind, ob es nun Helmut Kohl oder Albert Schweizer war. Sokrates hat man vergiftet und wenn ich einen in den Dreißiger Jahren recht erfolgreichen abgebrochenen Kunstmaler anführe, der es immer noch bis zum Politiker gebracht hat (außer ihm dürfte es noch etliche andere gegeben haben, wenn auch nicht mit solchen Nachwehen für die Welt...) , dann muß ich mich ja eigentlich ganz klein machen. Aber ich kann nicht malen, Urwalddoktoren kann auch der Entwicklungsdienst nicht mehr bezahlen und Pfälzisch kann ich auch nicht. Sie dürfen das nicht so kompliziert sehen, sagte mein Ausbildungslehrer immer, vergessen Sie alles, was Sie können, in der Schule brauchen Sie nichts zu können, zuviel Wissen schadet nur.
 
Wie recht er doch hat! Noch ist der Streit um meine endgültige Note nicht entschieden (Prüfer I: Das Niveau ist viel zu hoch..., Prüfer II: diese Schule ist im Niveau doch sehr gering...) , da erfahre ich, was ein Lehramtsexamen in der außerschulischen Beamtenlaufbahn wert ist: Mit zwei Staatsexamen sind Sie ja eigentlich ein Anwärter auf den gehobenen Dienst, sagt die freundliche Dame vom Langen Eugen (dem ehemaligen Abgeordnetenhochhaus) , wo ich zwecks einer Stelle angerufen habe. Wenn Sie wenigstens ein Jurist wären oder ein Naturwissenschaftler oder promovierter Historiker. Lehrer kann sie nicht einordnen: wir hatten im letzten Jahr eine Kommission, da waren auch Pädagogen drin, aber das war eine Ausnahme...
 
Aber ich bin nicht nur Lehrer, wage ich zu widersprechen, ich habe fünf Fächer studiert und kann mich in jedes Thema in kürzester Zeit einarbeiten.... Ja, ja, sagt sie, aber die Mehrzahl der Fachleute in den Kommissionen wird von Juristen gestellt, da kann man nichts machen, viel Glück...
 
Ähnlich ist es in anderen Ministerien: entweder bekomme ich zu hören, daß es keine Stellen gibt, oder mir wird gesagt, daß ich doch besser promovieren sollte (egal worin). Vielleicht haben wir jetzt doch österreichische Verhältnisse und ohne Titel ist man nichts? Wehmütig denke ich an die Zeit zurück, als wir in der Fachschaft eine Warteliste für die aufstellen mußten, die die Dissertation „über das Wiedererstarken des politischen Bewußtseins in der Pfalz" von einem gewissen Dr. Helmut K. mit eigenen Augen lesen wollten (bei fünfundvierzig Namen mußten wir die Warteliste wieder abhängen - es war zu peinlich geworden)... sicher eine lausige Diss, aber eine echte und ein echter Titel. Ich könnte bestimmt Zuarbeiter eines Sachbearbeiters eines Abgeordneten werden, wenn ich nur promoviert wäre.
 
Das Arbeitsamt hatte die letzten Tage vor dem Examen einen Vertreter eines Computer-Fortbildungsprogramms zu uns ins Seminar geschickt, der allen Referendaren einmal vormachen sollte, wie man Geld verdienen kann. Alles, was wir tun müßten, sei, einige Computer zu verkaufen und die Schulungen für die Kunden durchzuführen, wir seien doch alle Lehrer und damit gewöhnt, etwas zu erklären. Mein Banknachbar (lange Jahre gewesener Computerverkäufer) sagte ihm daraufhin, daß er aus Überzeugung Lehrer geworden sei, weil es viel zuviele Leute gibt, die etwas verkaufen und viel zuwenig Leute, die etwas wissen. Das verstand der Mensch vom Arbeitsamt leider nicht (er hatte sich umschulen lassen um Lehrer beraten zu können, weil er mal selber Lehrer gewesen war).
 
Vielleicht ist es symptomatisch für eine Gesellschaft, die nur noch massenweise Plastikkultur und Konsummüll verkauft: um massenweise Massengüter zu verkaufen, benötigt man keinen Fachmann mehr, sondern Lieschen Müller, der es egal ist, ob sie Wurst oder ein Schlafzimmer in Kiefernachbildung verkauft. In welchen Supermarkt ich auch gehe, alle haben das gleiche Sortiment, oft zu den gleichen Preisen, überall wird standardisiert und vereinfacht, sei es die überall gleiche Supermarktschrankwand oder eine Denkweise, die auch in diese Schrankwandschublade paßt. Alles, was komplizierter ist, wird an wenige Fachleute delegiert: Juristen, Marketingexperten, Verwaltungsfachleute. Individualismus bleibt auf der Strecke.
 
Es ist manchmal wie bei Freilandgeflügel: man hat nicht immer geregeltes Futter, aber man darf sich halbwegs frei bewegen und kann sich als intellektuelles Huhn sogar eine Spaß daraus machen, sein gelegtes Ei zu verstecken. In den Legebatterien herrscht dagegen Sicherheit vor Füchsen, man hat ein Dach über dem Kopf und geregelte Mahlzeiten. Alles andere scheint unwichtig. So sieht wohl auch die Zukunft unserer Gesellschaft aus: einheitlich fressen, einheitlich leben, einheitlich verbraten werden. Vorgefertigtes Denken (schrankwandgemäß) ist gefragt, Individualismus oder Querdenken ist out. Goethe? Ja, in der Komplettausgabe für achtundneunzig Mark (wie komplett die auch immer sein soll...). Bach? Ja, der ganze Bach auf dreißig LPs/CDs. Wichtig ist nicht, was man gelesen oder gehört hat, sondern was man besitzt, was man im Schrank stehen hat, also, was man hat - nicht, was man weiß. Besitztum wird Status eines Wissensverständnisses, das gerade im Geistigen außerordentlich gefährlich ist, weil es zur Sattheit verleitet. Geistiges wird damit schablonisiert, aber nicht verstanden. Die Informationsflut tötet das letzte Bißchen Kritikvermögen, weil man sich im Gefühl der Sicherheit wiegen kann, alles zu übersehen und weil man die Bildung ja in der Schrankwand stehen hat, glaubt man auch alles zu wissen.
 
Vor diesem Hintergrund wird die Denkweise der Gesellschaft verständlich. Wichtig erscheint das, was durch TV wahrgenommen wird oder im Bewußtsein der Trendsetter als wichtig erscheint. Kaum jemand aus meinem Bekanntenkreis war in der Lage über Geschehnisse der ersten Julihälfte 1987 mehr mitzuteilen als den Umstand eines deutschen Doppelsieges in Wimbledon und den damit verbundenen Fernsehkrieg. Es ist erschreckend, wie stark das Plastikdenken schon um sich gegriffen hat, erschrecken auch, daß kaum jemandem auffällt, wie vereinheitlicht blöde unsere Gesellschaft geworden ist. Was bleibt ihr auch anderes übrig in einer Zeit, die kompliziertere Aufgaben immer mehr reduziert und die Anforderungen an die Qualität ihrer Überwacher immer mehr senkt?
 
Diese Aufgabe kann auch von Lehrern nicht mehr gelöst werden. Das Wort von der "Erziehung zur Mündigkeit" steht zwar noch in den Richtlinien, jedoch bleibt es Makulatur, wenn ein Großteil des Kollegiums überaltert ist (unser Jüngster wird fünfzig...) und aus Bequemlichkeit sich nicht mit den notwendigen geistigen Überlegungen belasten will. Leichter ist es, den Fächerkanon durchzuziehen, Querdenker zu eliminieren und sich auf seine Pensionierung zu freuen. Ein Hans Magnus Enzensberger würde heute selbst auf dem Gymnasium wahrscheinlich nicht mehr verstanden - wenn er denn gelesen würde....
 
Was bleibt zu tun? Soll man kritisch werden und riskieren, anzuecken, eins aufs Maul zu kriegen und auf die Karriere verzichten? Soll man den "Marsch durch die Institutionen" aufnehmen und riskieren, genauso angepaßt zu werden, wie die ehemalige 68er-Generation, die fast spurlos verschwunden ist (Nachsatz 2003: Man denke an Joschka Fischer und Gerhard Schröder...) ? sind offenen Stellen ein Beweis für die Gesundung unserer Gesellschaft? Sind die Berufsanforderungen für "interessante" Stellen das Ergebnis frustrierter Denker?
 
Noch habe ich meine Träume: Vielleicht sind sie das Einzige was man mir nicht nehmen kann. Noch kann ich denken, was ich will...
 
Nachsatz 2003:
 
Zum Glück habe ich immer noch meine Träume, auch wenn es die letzten fünfundzwanzig Jahre etwas schwierig war, sie zu bewahren.
 
Martin Schlu