zurück
1987
1996
1998
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
|
Editorial
- Briefe an die Leser
Gesammelter
Senf zu aktuellen
Themen
älter
- neuer
|
Legebatterien und
Supermarktgesellschaft
Beim
Aufräumen fand ich einen Text von 1987 und stellte
fest, daß sich außer einer neuen Währung
und einigen Zahlen im Prinzip nichts verändert
hat...
30. Juli 1987
-
- Liebe Leser,
-
- In letzter Zeit
hört man immer wieder, daß es der Wirtschaft
so gut geht, daß der Aufschwung (endlich, endlich)
geklappt hat - Friede, Freude und Eierkuchen
überall. Und in der Tat gibt es auf einmal
Lehrstellen, fast überall werden offene Stellen
angeboten und ich müßte eigentlich zufrieden
sein ("eigentlich" beinhaltet ja schon ein "aber"), wenn
nicht....
-
- - die offenen Stellen
größtenteils für Verkäuferinnen,
Kassiererinnen, Außendienstmitarbeiter
(Klinkenputzen für Versicherung,
Zeitschriftenvertrieb und Tiefkühlkost) wären,
deren berufliche Qualifikation von jedem abgebrochenen
Hauptschüler spielend erreicht wird ;
-
- - die interessanten
Stellen z.B. in der "Zeit", der "Süddeutschen" oder
in Regionalblättern leider, leider für
dreißigjährige Doktoranden mit zehn Jahren
Berufserfahrung vorbehalten wären, die außer
dem Fremdsprachenstandard Englisch, Französisch und
Spanisch doch, bitte schön, noch eine weitere,
ausgefallenen Sprache können sollten;
-
- - immer wieder
regelmäßig Briefe meiner Bank kämen, in
denen ich ich ermahnt werde, mein überzogenes Konto
in Höhe von DM 143,32 innerhalb der nächsten
Tage auszugleichen. Ein mündliches Gespräch mit
der zuständigen Sachbearbeiterin bringt nicht viel.
Suchen Sie sich doch einfach eine Stelle, sagt sie, es
gibt doch soviele, dann müssen wir Sie nicht immer
anschreiben.
-
- Ich weiß,
daß es meine Schuld ist - ich hätte niemals
mein Studium zu Ende bringen dürfen, schon gar nicht
bis zum zweiten Staatsexamen. Alle großen
Männer sind nur etwas geworden, weil sie nicht
Lehrer geworden sind, ob es nun Helmut Kohl oder Albert
Schweizer war. Sokrates hat man vergiftet und wenn ich
einen in den Dreißiger Jahren recht erfolgreichen
abgebrochenen Kunstmaler anführe, der es immer noch
bis zum Politiker gebracht hat (außer ihm
dürfte es noch etliche andere gegeben haben, wenn
auch nicht mit solchen Nachwehen für die Welt...) ,
dann muß ich mich ja eigentlich ganz klein machen.
Aber ich kann nicht malen, Urwalddoktoren kann auch der
Entwicklungsdienst nicht mehr bezahlen und Pfälzisch
kann ich auch nicht. Sie dürfen das nicht so
kompliziert sehen, sagte mein Ausbildungslehrer immer,
vergessen Sie alles, was Sie können, in der Schule
brauchen Sie nichts zu können, zuviel Wissen schadet
nur.
-
- Wie recht er doch hat!
Noch ist der Streit um meine endgültige Note nicht
entschieden (Prüfer I: Das Niveau ist viel zu
hoch..., Prüfer II: diese Schule ist im Niveau doch
sehr gering...) , da erfahre ich, was ein Lehramtsexamen
in der außerschulischen Beamtenlaufbahn wert ist:
Mit zwei Staatsexamen sind Sie ja eigentlich ein
Anwärter auf den gehobenen Dienst, sagt die
freundliche Dame vom Langen Eugen (dem ehemaligen
Abgeordnetenhochhaus) , wo ich zwecks einer Stelle
angerufen habe. Wenn Sie wenigstens ein Jurist wären
oder ein Naturwissenschaftler oder promovierter
Historiker. Lehrer kann sie nicht einordnen: wir hatten
im letzten Jahr eine Kommission, da waren auch
Pädagogen drin, aber das war eine
Ausnahme...
-
- Aber ich bin nicht nur
Lehrer, wage ich zu widersprechen, ich habe fünf
Fächer studiert und kann mich in jedes Thema in
kürzester Zeit einarbeiten.... Ja, ja, sagt sie,
aber die Mehrzahl der Fachleute in den Kommissionen wird
von Juristen gestellt, da kann man nichts machen, viel
Glück...
-
- Ähnlich ist es in
anderen Ministerien: entweder bekomme ich zu hören,
daß es keine Stellen gibt, oder mir wird gesagt,
daß ich doch besser promovieren sollte (egal
worin). Vielleicht haben wir jetzt doch
österreichische Verhältnisse und ohne Titel ist
man nichts? Wehmütig denke ich an die Zeit
zurück, als wir in der Fachschaft eine Warteliste
für die aufstellen mußten, die die
Dissertation über das Wiedererstarken des
politischen Bewußtseins in der Pfalz" von einem
gewissen Dr. Helmut K. mit eigenen Augen lesen wollten
(bei fünfundvierzig Namen mußten wir die
Warteliste wieder abhängen - es war zu peinlich
geworden)... sicher eine lausige Diss, aber eine echte
und ein echter Titel. Ich könnte bestimmt Zuarbeiter
eines Sachbearbeiters eines Abgeordneten werden, wenn ich
nur promoviert wäre.
-
- Das Arbeitsamt hatte die
letzten Tage vor dem Examen einen Vertreter eines
Computer-Fortbildungsprogramms zu uns ins Seminar
geschickt, der allen Referendaren einmal vormachen
sollte, wie man Geld verdienen kann. Alles, was wir tun
müßten, sei, einige Computer zu verkaufen und
die Schulungen für die Kunden durchzuführen,
wir seien doch alle Lehrer und damit gewöhnt, etwas
zu erklären. Mein Banknachbar (lange Jahre gewesener
Computerverkäufer) sagte ihm daraufhin, daß er
aus Überzeugung Lehrer geworden sei, weil es viel
zuviele Leute gibt, die etwas verkaufen und viel zuwenig
Leute, die etwas wissen. Das verstand der Mensch vom
Arbeitsamt leider nicht (er hatte sich umschulen lassen
um Lehrer beraten zu können, weil er mal selber
Lehrer gewesen war).
-
- Vielleicht ist es
symptomatisch für eine Gesellschaft, die nur noch
massenweise Plastikkultur und Konsummüll verkauft:
um massenweise Massengüter zu verkaufen,
benötigt man keinen Fachmann mehr, sondern Lieschen
Müller, der es egal ist, ob sie Wurst oder ein
Schlafzimmer in Kiefernachbildung verkauft. In welchen
Supermarkt ich auch gehe, alle haben das gleiche
Sortiment, oft zu den gleichen Preisen, überall wird
standardisiert und vereinfacht, sei es die überall
gleiche Supermarktschrankwand oder eine Denkweise, die
auch in diese Schrankwandschublade paßt. Alles, was
komplizierter ist, wird an wenige Fachleute delegiert:
Juristen, Marketingexperten, Verwaltungsfachleute.
Individualismus bleibt auf der Strecke.
-
- Es ist manchmal wie bei
Freilandgeflügel: man hat nicht immer geregeltes
Futter, aber man darf sich halbwegs frei bewegen und kann
sich als intellektuelles Huhn sogar eine Spaß
daraus machen, sein gelegtes Ei zu verstecken. In den
Legebatterien herrscht dagegen Sicherheit vor
Füchsen, man hat ein Dach über dem Kopf und
geregelte Mahlzeiten. Alles andere scheint unwichtig. So
sieht wohl auch die Zukunft unserer Gesellschaft aus:
einheitlich fressen, einheitlich leben, einheitlich
verbraten werden. Vorgefertigtes Denken
(schrankwandgemäß) ist gefragt,
Individualismus oder Querdenken ist out. Goethe? Ja, in
der Komplettausgabe für achtundneunzig Mark (wie
komplett die auch immer sein soll...). Bach? Ja, der
ganze Bach auf dreißig LPs/CDs. Wichtig ist nicht,
was man gelesen oder gehört hat, sondern was man
besitzt, was man im Schrank stehen hat, also, was man hat
- nicht, was man weiß. Besitztum wird Status eines
Wissensverständnisses, das gerade im Geistigen
außerordentlich gefährlich ist, weil es zur
Sattheit verleitet. Geistiges wird damit schablonisiert,
aber nicht verstanden. Die Informationsflut tötet
das letzte Bißchen Kritikvermögen, weil man
sich im Gefühl der Sicherheit wiegen kann, alles zu
übersehen und weil man die Bildung ja in der
Schrankwand stehen hat, glaubt man auch alles zu
wissen.
-
- Vor diesem Hintergrund
wird die Denkweise der Gesellschaft verständlich.
Wichtig erscheint das, was durch TV wahrgenommen wird
oder im Bewußtsein der Trendsetter als wichtig
erscheint. Kaum jemand aus meinem Bekanntenkreis war in
der Lage über Geschehnisse der ersten
Julihälfte 1987 mehr mitzuteilen als den Umstand
eines deutschen Doppelsieges in Wimbledon und den damit
verbundenen Fernsehkrieg. Es ist erschreckend, wie stark
das Plastikdenken schon um sich gegriffen hat,
erschrecken auch, daß kaum jemandem auffällt,
wie vereinheitlicht blöde unsere Gesellschaft
geworden ist. Was bleibt ihr auch anderes übrig in
einer Zeit, die kompliziertere Aufgaben immer mehr
reduziert und die Anforderungen an die Qualität
ihrer Überwacher immer mehr senkt?
-
- Diese Aufgabe kann auch
von Lehrern nicht mehr gelöst werden. Das Wort von
der "Erziehung zur Mündigkeit" steht zwar noch in
den Richtlinien, jedoch bleibt es Makulatur, wenn ein
Großteil des Kollegiums überaltert ist (unser
Jüngster wird fünfzig...) und aus
Bequemlichkeit sich nicht mit den notwendigen geistigen
Überlegungen belasten will. Leichter ist es, den
Fächerkanon durchzuziehen, Querdenker zu eliminieren
und sich auf seine Pensionierung zu freuen. Ein Hans
Magnus Enzensberger würde heute selbst auf dem
Gymnasium wahrscheinlich nicht mehr verstanden - wenn er
denn gelesen würde....
-
- Was bleibt zu tun? Soll
man kritisch werden und riskieren, anzuecken, eins aufs
Maul zu kriegen und auf die Karriere verzichten? Soll man
den "Marsch durch die Institutionen" aufnehmen und
riskieren, genauso angepaßt zu werden, wie die
ehemalige 68er-Generation, die fast spurlos verschwunden
ist (Nachsatz 2003: Man denke an Joschka Fischer und
Gerhard Schröder...) ? sind offenen Stellen ein
Beweis für die Gesundung unserer Gesellschaft? Sind
die Berufsanforderungen für "interessante" Stellen
das Ergebnis frustrierter Denker?
-
- Noch habe ich meine
Träume: Vielleicht sind sie das Einzige was man mir
nicht nehmen kann. Noch kann ich denken, was ich
will...
-
- Nachsatz
2003:
-
- Zum Glück habe ich
immer noch meine Träume, auch wenn es die letzten
fünfundzwanzig Jahre etwas schwierig war, sie zu
bewahren.
-
- Martin Schlu
-
|