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erstellt: Juli 2000 von Martin Schlu
Johann Wolfgang von Goethe
Werthers Leiden, 2. Buch
Seite
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Am 4. August
1772 I Am 21.
August 1772 I Am
3. September 1772 I
Am 4. September
1772 I >>
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Am 4. August
1772
Es geht mir nicht allein so. Alle Menschen
werden in ihren Hoffnungen getäuscht, in ihren
Erwartungen betrogen. Ich besuchte mein gutes Weib
unter der Linde. Der älteste Junge lief mir
entgegen, sein Freudengeschrei führte die
Mutter herbei, die sehr niedergeschlagen aussah.
Ihr erstes Wort war:"guter Herr, ach, mein Hans ist
mir gestorben!"- es war der jüngste ihrer
Knaben. Ich war stille. "und mein Mann", sagte
sie,"ist aus der Schweiz zurück und hat nichts
mitgebracht, und ohne gute Leute hätte er sich
heraus betteln müssen, er hatte das Fieber
unterwegs gekriegt". - ich konnte ihr nichts sagen
und schenkte dem Kleinen was; sie bat mich, einige
Äpfel anzunehmen, das ich tat und den Ort des
traurigen Andenkens verließ.
Am
21. August 1772
Seitenanfang
Wie man eine Hand umwendet, ist es anders mit
mir. Manchmal will wohl ein freudiger Blick des
Lebens wieder aufdämmern, ach, nur für
einen Augenblick! - wenn ich mich so in
Träumen verliere, kann ich mich des Gedankens
nicht erwehren: wie, wenn Albert stürbe? Du
würdest! Ja, sie würde - und dann laufe
ich dem Hirngespinste nach, bis es mich an
Abgründe führet, vor denen ich
zurückbebe.
Wenn ich zum Tor hinausgehe, den Weg, den ich
zum erstenmal fuhr, Lotten zum Tanze zu holen, wie
war das so ganz anders! Alles, alles ist
vorübergegangen! Kein Wink der vorigen Welt,
kein Pulsschlag meines damaligen Gefühles. Mir
ist es, wie es einem Geiste sein müßte,
der in das ausgebrannte, zerstörte
Schloß zurückkehrte, das er als
blühender Fürst einst gebaut und mit
allen Gaben der Herrlichkeit ausgestattet, sterbend
seinem geliebten Sohne hoffnungsvoll hinterlassen
hätte.
Am
3. September 1772
Seitenanfang
ch begreife manchmal nicht, wie sie ein anderer
lieb haben kann, lieb haben darf, da ich sie so
ganz allein, so innig, so voll liebe, nichts anders
kenne, noch weiß, noch habe als sie!
Am
4. September 1772
Seitenanfang
Ja, es ist so. Wie die Natur sich zum Herbste
neigt, wird es Herbst in mir und um mich her. Meine
Blätter werden gelb, und schon sind die
Blätter der benachbarten Bäume
abgefallen. Hab' ich dir nicht einmal von einem
Bauerburschen geschrieben, gleich da ich herkam?
Jetzt erkundigte ich mich wieder nach ihm in
Wahlheim; es hieß, er sei aus dem Dienste
gejagt worden, und niemand wollte was weiter von
ihm wissen. Gestern traf ich ihn von ungefähr
auf dem Wege nach einem andern Dorfe, ich redete
ihn an, und er erzählte mir seine Geschichte,
die mich doppelt und dreifach gerührt hat, wie
du leicht begreifen wirst, wenn ich dir sie
wiedererzähle. Doch wozu das alles? Warum
behalt' ich nicht für mich, was mich
ängstigt und kränkt? Warum betrüb'
ich noch dich? Warum geb' ich dir immer
Gelegenheit, mich zu bedauern und mich zu schelten?
Sei's denn, auch das mag zu meinem Schicksal
gehören!
Mit einer stillen Traurigkeit, in der ich ein
wenig scheues Wesen zu bemerken schien, antwortete
der Mensch mir erst auf meine Fragen; aber gar bald
offner, als wenn er sich und mich auf einmal
wiedererkennte, gestand er mir seine Fehler, klagte
er mir sein Unglück. Könnt' ich dir, mein
Freund, jedes seiner Worte vor Gericht stellen! Er
bekannte, ja er erzählte mit einer Art von
Genuß und Glück der Wiedererinnerung,
daß die Leidenschaft zu seiner Hausfrau sich
in ihm tagtäglich vermehrt, daß er
zuletzt nicht gewußt habe, was er tue, nicht,
wie er sich ausdrückte, wo er mit dem Kopfe
hingesollt. Er habe weder essen noch trinken noch
schlafen können, es habe ihm an der Kehle
gestockt, er habe getan, was er nicht tun sollen;
was ihm aufgetragen worden, hab' er vergessen, er
sei als wie von einem bösen Geist verfolgt
gewesen, bis er eines Tages, als er sie in einer
obern Kammer gewußt, ihr nachgegangen, ja
vielmehr ihr nachgezogen worden sei; da sie seinen
Bitten kein Gehör gegeben, hab' er sich ihrer
mit Gewalt bemächtigen wollen; er wisse nicht,
wie ihm geschehen sei, und nehme Gott zum Zeugen,
daß seine Absichten gegen sie immer redlich
gewesen, und daß er nichts sehnlicher
gewünscht, als daß sie ihn heiraten,
daß sie mit ihm ihr Leben zubringen
möchte. Da er eine Zeitlang geredet hatte,
fing er an zu stocken, wie einer, der noch etwas zu
sagen hat und sich es nicht herauszusagen getraut;
endlich gestand er mir auch mit
Schüchternheit, was sie ihm für kleine
Vertraulichkeiten erlaubt, und welche Nähe sie
ihm vergönnet. Er brach zwei-, dreimal ab und
wiederholte die lebhaftesten Protestationen,
daß er das nicht sage, um sie schlecht zu
machen, wie er sich ausdrückte, daß er
sie liebe und schätze wie vorher, daß so
etwas nicht über seinen Mund gekommen sei und
daß er es mir nur sage, um mich zu
überzeugen, daß er kein ganz verkehrter
und unsinniger Mensch sei.
- Und hier, mein Bester, fang' ich mein altes
Lied wieder an, das ich ewig anstimmen werde:
könnt' ich dir den Menschen vorstellen, wie er
vor mir stand, wie er noch vor mir steht!
Könnt' ich dir alles recht sagen, damit du
fühltest, wie ich an seinem Schicksale
teilnehme, teilnehmen muß! Doch genug, da du
auch mein Schicksal kennst, auch mich kennst, so
weißt du nur zu wohl, was mich zu allen
Unglücklichen, was mich besonders zu diesem
Unglücklichen hinzieht.
Da ich das Blut wieder durchlese, seh' ich,
daß ich das Ende der Geschichte zu
erzählen vergessen habe, das sich aber leicht
hinzudenken läßt. Sie erwehrte sich
sein; ihr Bruder kam dazu, der ihn schon lange
gehaßt, der ihn schon lange aus dem Hause
gewünscht hatte, weil er fürchtet, durch
eine neue Heirat der Schwester werde seinen Kindern
die Erbschaft entgehn, die ihnen jetzt, da sie
kinderlos ist, schöne Hoffnungen gibt; dieser
habe ihn gleich zum Hause hinausgestoßen und
einen solchen Lärm von der Sache gemacht,
daß die Frau, auch selbst wenn sie gewollt,
ihn nicht wieder hätte aufnehmen können.
Jetzt habe sie wieder einen andern Knecht genommen,
auch über den, sage man, sei sie mit dem
Bruder zerfallen, und man behaupte für
gewiß, sie werde ihn heiraten, aber er sei
fest entschlossen, das nicht zu erleben.
Was ich dir erzähle, ist nicht
übertrieben, nichts verzärtelt, ja ich
darf wohl sagen, schwach, schwach hab' ich's
erzählt, und vergröbert hab' ich's, indem
ich's mit unsern hergebrachten sittlichen Worten
vorgetragen habe.
Diese Liebe, diese Treue, diese Leidenschaft ist
also keine dichterische Erfindung. Sie lebt, sie
ist in ihrer größten Reinheit unter der
Klasse von Menschen, die wir ungebildet, die wir
roh nennen. Wir Gebildeten - zu Nichts Verbildeten!
Lies die Geschichte mit Andacht, ich bitte dich.
Ich bin heute still, indem ich das hinschreibe; du
siehst an meiner Hand, daß ich nicht so
strudele und sudele wie sonst. Lies, mein
Geliebter, und denke dabei, daß es auch die
Geschichte deines Freundes ist. Ja so ist mir's
gegangen, so wird mir's gehn, und ich bin nicht
halb so brav, nicht halb so entschlossen als der
arme Unglückliche, mit dem ich mich zu
vergleichen mich fast nicht getraue.
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zum 5. September 1772
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