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erstellt: Juli 2000 von Martin Schlu
Johann Wolfgang von Goethe
Werthers Leiden, 2. Buch
Seite
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Am 5. September
1772 I Am 6.
September 1772 I Am
12. September 1772 I
Am 15. September 1772
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Am
5. September 1772
Sie hatte ein Zettelchen an ihren Mann aufs Land
geschrieben, wo er sich Geschäfte wegen
aufhielt. Es fing an: "Bester, Liebster, komme,
sobald du kannst, ich erwarte dich mit tausend
Freuden". - Ein Freund, der hereinkam, brachte
Nachricht, daß er wegen gewisser
Umstände so bald noch nicht zurückkehren
würde. Das Billett blieb liegen und fiel mir
abends in die Hände. Ich las es und
lächelte; sie fragte worüber? -"Was die
Einbildungskraft für ein göttliches
Geschenk ist, "rief ich aus,"ich konnte mir einen
Augenblick vorspiegeln, als wäre es an mich
geschrieben". - Sie brach ab, es schien ihr zu
mißfallen, und ich schwieg.
Am
6. September 1772
Seitenanfang
Es hat schwer gehalten, bis ich mich
entschloß, meinen blauen einfachen Frack, in
dem ich mit Lotten zum erstenmale tanzte,
abzulegen, er ward aber zuletzt gar unscheinbar.
Auch habe ich mir einen machen lassen ganz wie den
vorigen, Kragen und Aufschlag, und auch wieder so
gelbe Weste und Beinkleider dazu. Ganz will es doch
die Wirkung nicht tun. Ich weiß nicht - ich
denke, mit der Zeit soll mir der auch lieber
werden.
Am
12. September 1772
Seitenanfang
Sie war einige Tage verreist, Alberten
abzuholen. Heute trat ich in ihre Stube, sie kam
mir entgegen, und ich küßte ihre Hand
mit tausend Freuden.
Ein Kanarienvogel flog von dem Spiegel ihr auf
die Schulter. -"Einen neuen Freund,"sagte sie und
lockte ihn auf ihre Hand,"er ist meinen Kleinen
zugedacht. Er tut gar zu lieb! Sehen Sie ihn! Wenn
ich ihm Brot gebe, flattert er mit den Flügeln
und pickt so artig. Er küßt mich auch,
sehen Sie!"
Als sie dem Tierchen den Mund hinhielt,
drückte es sich so lieblich in die
süßen Lippen, als wenn es die Seligkeit
hätte fühlen können, die es
genoß.
"Er soll Sie auch küssen."sagte sie und
reichte den Vogel herüber. - Das
Schnäbelchen machte den Weg von ihrem Munde zu
dem meinigen, und die pickende Berührung war
wie ein Hauch, eine Ahnung liebevollen
Genusses.
"Sein Kuß", sagte ich,"ist nicht ganz ohne
Begierde, er sucht Nahrung und kehrt unbefriedigt
von der leeren Liebkosung zurück".
"Er ißt mir auch aus dem Munde."sagte sie.
- Sie reichte ihm einige Brosamen mit ihren Lippen,
aus denen die Freuden unschuldig teilnehmender
Liebe in aller Wonne lächelten.
Ich kehrte das Gesicht weg. Sie sollte es nicht
tun, sollte nicht meine Einbildungskraft mit diesen
Bildern himmlischer Unschuld und Seligkeit reizen
und mein Herz aus dem Schlafe, in den es manchmal
die Gleichgültigkeit des Lebens wiegt, nicht
wecken! - Und warum nicht? - Sie traut mir so! Sie
weiß, wie ich sie liebe!
Am
15. September 1772
Seitenanfang
Man möchte rasend werden, Wilhelm,
daß es Menschen geben soll ohne Sinn und
Gefühl an dem wenigen, was auf Erden noch
einen Wert hat. Du kennst die Nußbäume,
unter denen ich bei dem ehrlichen Pfarrer zu St...
mit Lotten gesessen, die herrlichen
Nußbäume, die mich, Gott weiß,
immer mit dem größten
Seelenvergnügen füllten! Wie vertraulich
sie den Pfarrhof machten, wie kühl! Und wie
herrlich die Äste waren! Und die Erinnerung
bis zu den ehrlichen Geistlichen, die sie vor
vielen Jahren pflanzten. Der Schulmeister hat uns
den einen Namen oft genannt, den er von seinem
Großvater gehört hatte; und so ein
braver Mann soll er gewesen sein, und sein Andenken
war immer heilig unter den Bäumen. Ich sage
dir, dem Schulmeister standen die Tränen in
den Augen, da wir gestern davon redeten, daß
sie abgehauen worden - abgehauen! Ich möchte
toll werden, ich könnte den Hund ermorden, der
den ersten Hieb dran tat. Ich, der ich mich
vertrauern könnte, wenn so ein paar Bäume
in meinem Hofe stünden und einer davon
stürbe vor Alter ab, ich muß zusehen.
Lieber Schatz, eins ist doch dabei: was
Menschengefühl ist! Das ganze Dorf murrt, und
ich hoffe, die Frau Pfarrerin soll es an Butter und
Eiern und übrigem Zutrauen spüren, was
für eine Wunde sie ihrem Orte gegeben hat.
Denn sie ist es, die Frau des neuen Pfarrers (unser
alter ist auch gestorben), ein hageres,
kränkliches Geschöpf, das sehr Ursache
hat, an der Welt keinen Anteil zu nehmen, denn
niemand nimmt Anteil an ihr. Eine Närrin, die
sich abgibt, gelehrt zu sein, sich in die
Untersuchung des Kanons meliert, gar viel an der
neumodischen, moralisch-kritischen Reformation des
Christentumes arbeitet und über Lavaters
Schwärmereien die Achseln zuckt, eine ganz
zerrüttete Gesundheit hat und deswegen auf
Gottes Erdboden keine Freude. So einer Kreatur war
es auch allein möglich, meine
Nußbäume abzuhauen. Siehst du, ich komme
nicht zu mir! Stelle dir vor: die abfallenden
Blätter machen ihr den Hof unrein und dumpfig,
die Bäume nehmen ihr das Tageslicht, und wenn
die Nüsse reif sind, so werfen die Knaben mit
Steinen darnach, und das fällt ihr auf die
Nerven, das stört sie in ihren tiefen
Überlegungen, wenn sie Kennikot, Semler und
Michaelis gegen einander abwiegt. Da ich die Leute
im Dorfe, besonders die alten, so unzufrieden sah,
sagte ich:"warum habt ihr es gelitten?" - "wenn der
Schulze will, hier zu Lande, "sagten sie, "was kann
man machen?" - aber eins ist recht geschehen. Der
Schulze und der Pfarrer, der doch auch von seiner
Frauen Grillen, die ihm ohnedies die Suppen nicht
fett machen, was haben wollte, dachten es mit
einander zu teilen; da erfuhr es die Kammer und
sagte: "hier herein!" denn sie hatte noch alte
Prätensionen an den Teil des Pfarrhofes, wo
die Bäume standen, und verkaufte sie an den
Meistbietenden. Sie liegen! O, wenn ich Fürst
wäre! Ich wollte die Pfarrerin, den Schulzen
und die Kammer - Fürst! - ja wenn ich
Fürst wäre, was kümmerten mich die
Bäume in meinem Lande!
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zum 10. Oktober 1772
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