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erstellt: Juli 2000 von Martin Schlu
Johann Wolfgang von Goethe
Werthers Leiden, 2. Buch
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Am 10. Oktober
1772 I Am 19.
Oktober 1772 I Am
27. Oktober 1772 I
Am 27. Oktober
abends I Am 30.
Oktober 1772 I >>
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Am
10. Oktober 1772
Wenn ich nur ihre schwarzen Augen sehe, ist mir
es schon wohl! Sieh, und was mich verdrießt,
ist, daß Albert nicht so beglückt zu
sein scheinet, als er - hoffte - als ich - zu sein
glaubte - wenn - ich mache nicht gern
Gedankenstriche, aber hier kann ich mich nicht
anders ausdrücken - und mich dünkt
deutlich genug.
Am 10. Oktober
Ossian hat in meinem Herzen den Humor
verdrängt. Welch eine Welt, in die der
Herrliche mich führt! Zu wandern über die
Heide, umsaust vom Sturmwinde, der in dampfenden
Nebeln die Geister der Väter im
dämmernden Lichte des Mondes hinführt. Zu
hören vom Gebirge her, im Gebrülle des
Waldstroms, halb verwehtes Ächzen der Geister
aus ihren Höhlen, und die Wehklagen des zu
Tode sich jammernden Mädchens, um die vier
moosbedeckten, grasbewachsenen Steine des
Edelgefallnen, ihres Geliebten. Wenn ich ihn dann
finde, den wandelnden grauen Barden, der auf der
weiten Heide die Fußstapfen seiner Väter
sucht und, ach, ihre Grabsteine findet und dann
jammernd nach dem lieben Sterne des Abends
hinblickt, der sich ins rollende Meer verbirgt, und
die Zeiten der Vergangenheit in des Helden Seele
lebendig werden, da noch der freundliche Strahl den
Gefahren der Tapferen leuchtete und der Mond ihr
bekränztes, siegrückkehrendes Schiff
beschien. Wenn ich den tiefen Kummer auf seiner
Stirn lese, den letzten verlassenen Herrlichen in
aller Ermattung dem Grabe zuwanken sehe, wie er
immer neue, schmerzlich glühende Freuden in
der kraftlosen Gegenwart der Schatten seiner
Abgeschiedenen einsaugt und nach der kalten Erde,
dem hohen, wehenden Grase niedersieht und
ausruft:"Der Wanderer wird kommen, kommen, der mich
kannte in meiner Schönheit, und fragen: 'wo
ist der Sänger, Fingals trefflicher Sohn?'
Sein Fußtritt geht über mein Grab hin,
und er fragt vergebens nach mir auf der Erde". - O
Freund! Ich möchte gleich einem edlen
Waffenträger das Schwert ziehen, meinen
Fürsten von der zückenden Qual des
langsam absterbenden Lebens auf einmal befreien und
dem befreiten Halbgott meine Seele nachsenden.
Am
19. Oktober 1772
Seitenanfang
Ach diese Lücke! Diese entsetzliche
Lücke, die ich hier in meinem Busen
fühle! - Ich denke oft, wenn du sie nur
einmal, nur einmal an dieses Herz drücken
könntest, diese ganze Lücke würde
ausgefüllt sein.
Am 19. Oktober
Ja es wird mir gewiß, Lieber, gewiß
und immer gewisser, daß an dem Dasein eines
Geschöpfes wenig gelegen ist, ganz wenig. Es
kam eine Freundin zu Lotten, und ich ging herein
ins Nebenzimmer, ein Buch zu nehmen, und konnte
nicht lesen, und dann nahm ich eine Feder, zu
schreiben. Ich hörte sie leise reden; sie
erzählten einander unbedeutende Sachen,
Stadtneuigkeiten: wie diese heiratet, wie jene
krank, sehr krank ist. -"Sie hat einen trocknen
Husten, die Knochen stehn ihr zum Gesichte heraus,
und kriegt Ohnmachten; ich gebe keinen Kreuzer
für ihr Leben". Sagte die eine. -"Der N. N.
ist auch so übel dran", sagte Lotte. -"Er ist
schon geschwollen", sagte die andere. - Und meine
lebhafte Einbildungskraft versetzte mich ans Bett
dieser Armen; ich sah sie, mit welchem Widerwillen
sie dem Leben den Rücken wandten, wie sie -
Wilhelm! Und meine Weibchen redeten davon, wie man
eben davon redet - daß ein Fremder stirbt. -
Und wenn ich mich umsehe und sehe das Zimmer an,
und rings um mich Lottens Kleider und Alberts
Skripturen und diese Möbeln, denen ich nun so
befreundet bin, sogar diesem Dintenfaß, und
denke: siehe, was du nun diesem Hause bist! Alles
in allem. Deine Freunde ehren dich! Du machst oft
ihre Freude, und deinem Herzen scheint es, als wenn
es ohne sie nicht sein könnte; und doch - wenn
du nun gingst, wenn du aus diesem Kreise schiedest?
Würden sie, wie lange würden sie die
Lücke fühlen, die dein Verlust in ihr
Schicksal reißt? Wie lange? - O, so
vergänglich ist der Mensch, daß er auch
da, wo er seines Daseins eigentliche
Gewißheit hat, da, wo er den einzigen wahren
Eindruck seiner Gegenwart macht, in dem Andenken,
in der Seele seiner Lieben, daß er auch da
verlöschen, verschwinden muß, und das so
bald!
Am
27. Oktober 1772
Seitenanfang
Ich möchte mir oft die Brust
zerreißen und das Gehirn einstoßen,
daß man einander so wenig sein kann. Ach die
Liebe, Freude, Wärme und Wonne, die ich nicht
hinzubringe, wird mir der andere nicht geben, und
mit einem ganzen Herzen voll Seligkeit werde ich
den andern nicht beglücken, der kalt und
kraftlos vor mir steht.
Ich habe so viel, und die Empfindung an ihr
verschlingt alles; ich habe so viel, und ohne sie
wird mir alles zu Nichts.
Am
27. Oktober abends
Seitenanfang
Am 27. Oktober abends
Wenn ich nicht schon hundertmal auf dem Punkte
gestanden bin, ihr um den Hals zu fallen!
Weiß der große Gott, wie einem das tut,
so viele Liebenswürdigkeit vor einem
herumkreuzen zu sehen und nicht zugreifen zu
dürfen; und das Zugreifen ist doch der
natürlichste Trieb der Menschheit. Greifen die
Kinder nicht nach allem, was ihnen in den Sinn
fällt? - Und ich?
Am
30. Oktober 1772
Seitenanfang
Weiß Gott! Ich lege mich so oft zu Bette
mit dem Wunsche, ja manchmal mit der Hoffnung,
nicht wieder zu erwachen: und morgens schlage ich
die Augen auf, sehe die Sonne wieder, und bin
elend. O daß ich launisch sein könnte,
könnte die Schuld aufs Wetter, auf einen
Dritten, auf eine fehlgeschlagene Unternehmung
schieben, so würde die unerträgliche Last
des Unwillens doch nur halb auf mir ruhen. Wehe
mir! Ich fühle zu wahr, daß an mir alle
Schuld liegt - nicht Schuld! Genug, daß in
mir die Quelle alles Elendes verborben ist, wie
ehemals die Quelle aller Seligkeiten. Bin ich nicht
noch ebenderselbe, der ehemals in aller Fülle
der Empfindung herumschwebte, dem auf jedem Tritte
ein Paradies folgte, der ein Herz hatte, eine ganze
Welt liebevoll zu umfassen? Und dies Herz ist jetzt
tot, aus ihm fließen keine Entzückungen
mehr, meine Augen sind trocken, und meine Sinne,
die nicht mehr von erquickenden Tränen gelabt
werden, ziehen ängstlich meine Stirn zusammen.
Ich leide viel, denn ich habe verloren, was meines
Lebens einzige Wonne war, die heilige, belebende
Kraft, mit der ich Welten um mich schuf; sie ist
dahin! - Wenn ich zu meinem Fenster hinaus an den
fernen Hügel sehe, wie die Morgensonne
über ihn her den Nebel durchbricht und den
stillen Wiesengrund bescheint, und der sanfte
Fluß zwischen seinen entblätterten
Weiden zu mir herschlängelt, - o! Wenn da
diese herrliche Natur so starr vor mir steht wie
ein lackiertes Bildchen, und alle die Wonne keinen
Tropfen Seligkeit aus meinem Herzen herauf in das
Gehirn pumpen kann, und der ganze Kerl vor Gottes
Angesicht steht wie ein versiegter Brunnen, wie ein
verlechter Eimer. Ich habe mich oft auf den Boden
geworfen und Gott um Tränen gebeten, wie ein
Ackersmann um Regen, wenn der Himmel ehern
über ihm ist und um ihn die Erde
verdürstet.
Aber, ach, ich fühle es, Gott gibt Regen
und Sonnenschein nicht unserm ungestümen
Bitten, und jene Zeiten, deren Andenken mich
quält, warum waren sie so selig, als weil ich
mit Geduld seinen Geist erwartete und die Wonne,
die er über mich ausgoß, mit ganzem,
innig dankbarem Herzen aufnahm!
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zum 8. November 1772
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