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erstellt: Juli 2000 von Martin Schlu
Johann Wolfgang von Goethe
Werthers Leiden, 2. Buch
Seite
8 von 11 Seite
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>> Seite 9
Am 8. November
1772 I Am 15.
November 1772 I Am
21. November 1772 I
Am 22. November
1772 I Am 24.
November 1772 I Am
26. November 1772 I
>> weiter
Am
8. November 1772
Sie hat mir meine Exzesse vorgeworfen! Ach, mit
so viel Liebenswürdigkeit! Meine Exzesse,
daß ich mich manchmal von einem Glase Wein
verleiten lasse, eine Bouteille zu trinken. - "Tun
Sie es nicht!" sagte sie, "denken Sie an Lotten!" -
"Denken!" sagte ich, "brauchen Sie mir das zu
heißen? Ich denke! -Ich denke nicht! Sie sind
immer vor meiner Seele. Heute saß ich an dem
Flecke, wo Sie neulich aus der Kutsche stiegen." --
Sie redete was anders, um mich nicht tiefer in den
Text kommen zu lassen. Bester, ich bin dahin! Sie
kann mit mir machen, was sie will.
Am
15. November 1772
Seitenanfang
Ich danke dir, Wilhelm, für deinen
herzlichen Anteil, für deinen wohlmeinenden
Rat und bitte dich, ruhig zu sein. Laß mich
ausdulden, ich habe bei aller meiner
Müdseligkeit noch Kraft genug durchzusetzen.
Ich ehre die Religion, das weißt du, ich
fühle, daß sie manchem ermatteten Stab,
manchem Verschmachtenden Erquickung ist. Nur - kann
sie denn, muß sie denn das einem jeden sein?
Wenn du die große Welt ansiehst, so siehst du
Tausende, denen sie es nicht war, Tausende, denen
sie es nicht sein wird, gepredigt oder ungepredigt,
und muß sie mir es denn sein? Sagt nicht
selbst der Sohn Gottes, daß die um ihn sein
würden, die ihm der Vater gegeben hat? Wenn
ich ihm nun nicht gegeben bin? Wenn mich nun der
Vater für sich bahalten will, wie mir mein
Herz sagt? - ich bitte dich, lege das nicht falsch
aus; sieh nicht etwa Spott in diesen unschuldigen
Worten; es ist meine ganze Seele, die ich dir
vorlege; sonst wollte ich lieber, ich hätte
geschwiegen: wie ich denn über alles das,
wovon jedermann so wenig weiß als ich, nicht
gern ein Wort verliere. Was ist es anders als
Menschenschicksal, sein Maß auszuleiden,
seinen Becher auszutrinken? - Und ward der Kelch
dem Gott vom Himmel auf seiner Menschenlippe zu
bitter, warum soll ich großtun und mich
stellen, als schmeckte er mir süß? Und
warum sollte ich mich schämen, in dem
schrecklichen Augenblick, da mein ganzes Wesen
zwischen Sein und Nichtsein zittert, da die
Vergangenheit wie ein Blitz über dem finstern
Abgrunde der Zukunft leuchtet und alles um mich her
versinkt und mit mir die Welt untergeht? Ist es da
nicht die Stimme der ganz in sich gedrängten,
sich selbst ermangelnden und unaufhaltsam
hinabstürzenden Kreatur, in den innern Tiefen
ihrer vergebens aufarbeitenden Kräfte zu
knirschen: "mein Gott! Mein Gott! Warum hast du
mich verlassen?" und sollt' ich mich des Ausdruckes
schämen, sollte mir es vor dem Augenblicke
bange sein, da ihm der nicht entging, der die
Himmel zusammenrollt wie ein Tuch?
Am
21. November 1772
Seitenanfang
Sie sieht nicht, sie fühlt nicht, daß
sie ein Gift bereitet, das mich und sie zugrunde
richten wird; und ich mit voller Wollust
schlürfe den Becher aus, den sie mir zu meinem
Verderben reicht. Was soll der gütige Blick,
mit dem sie mich oft - oft? - nein, nicht oft, aber
doch manchmal ansieht, die Gefälligkeit, womit
sie einen unwillkürlichen Ausdruck meines
Gefühls aufnimmt, das Mitleiden mit meiner
Duldung, das sich auf ihrer Stirne zeichnet?
Gestern, als ich wegging, reichte sie mir die
Hand und sagte: "Adieu, lieber Werther!" - lieber
Werther! Es war das erstemal, daß sie mich
Lieber hieß, und es ging mir durch Mark und
Bein. Ich habe es mir hundertmal wiederholt, und
gestern nacht, da ich zu Bette gehen wollte und mit
mir selbst allerlei schwatzte, sagte ich so auf
einmal: "gute Nacht, lieber Werther!" und
mußte hernach selbst über mich
lachen.
Am
22. November 1772
Seitenanfang
Ich kann nicht beten:"laß mir sie!" und
doch kommt sie mir oft als die Meine vor. Ich kann
nicht beten: "gib mir sie!" denn sie ist eines
andern. Ich witzle mich mit meinen Schmerzen herum;
wenn ich mir's nachließe, es gäbe eine
ganze Litanei von Antithesen.
Am
24. November 1772
Seitenanfang
Sie fühlt, was ich dulde. Heute ist mir ihr
Blick tief durchs Herz gedrungen. Ich fand sie
allein; ich sagte nichts, und sie sah mich an. Und
ich sah nicht mehr in ihr die liebliche
Schönheit, nicht mehr das Leuchten des
trefflichen Geistes, das war alles vor meinen Augen
verschwunden. Ein weit herrlicherer Blick wirkte
auf mich, voll Ausdruck des innigsten Anteils, des
süßesten Mitleidens. Warum durft' ich
mich nicht ihr zu Füßen werfen? Warum
durft' ich nicht an ihrem Halse mit tausend
Küssen antworten? Sie nahm ihre Zuflucht zum
Klavier und hauchte mit süßer, leiser
Stimme harmonische Laute zu ihrem Spiele. Nie habe
ich ihre Lippen so reizend gesehn; es war, als wenn
sie sich lechzend öffneten, jene
süßen Töne in sich zu
schlürfen, die aus dem Instrument
hervorquollen, und nur der heimliche Widerschall
aus dem reinen Munde zurückklänge - ja
wenn ich dir das so sagen könnte! - ich
widerstand nicht länger, neigte mich und
schwur: nie will ich es wagen, einen Kuß euch
aufzudrücken, Lippen, auf denen die Geister
des Himmels schweben. - Und doch - ich will - ha!
Siehst du, das steht wie eine Scheidewand vor
meiner Seele - diese Seligkeit - und dann
untergegangen, diese Sünde
abzubüßen - Sünde?
Am 26. November
1772
Seitenanfang
Manchmal sag' ich mir: dein Schicksal ist
einzig; preise die übrigen glücklich - so
ist noch keiner gequält worden. - dann lese
ich einen Dichter der Vorzeit, und es ist mir, als
säh' ich in mein eignes Herz. Ich habe so viel
auszustehen! Ach, sind denn Menschen vor mir schon
so elend gewesen?
weiter
zum 30. November 1772
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