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erstellt: Juli 2000 von Martin Schlu
Johann Wolfgang von Goethe
Werthers Leiden, 2. Buch
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Seite 10
Am 30. November
1772 I Am 1.
Dezember 1772 I Am
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Am
30. November 1772
Ich soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen!
Wo ich hintrete,begegnet mir eine Erscheinung, die
mich aus aller Fassung bringt.
Heute! O Schicksal! O Menschheit!
Ich gehe an dem Wasser hin in der Mittagsstunde,
ich hatte keine keine Lust zu essen. Alles war
öde, ein naßkalter Abendwind blies vom
Berge, und die grauen Regenwolken zogen das Tal
hinein. Von fern seh' ich einen Menschen in einem
grünen, schlechten Rocke, der zwischen den
Felsen herumkrabbelte und Kräuter zu suchen
schien. Als ich näher zu ihm kam und er sich
auf das Geräusch, das ich machte, herumdrehte,
sah ich eine gar interessante Physiognomie, darin
eine stille Trauer den Hauptzug machte, die aber
sonst nichts als einen geraden guten Sinn
ausdrückte; seine schwarzen Haare waren mit
Nadeln in zwei Rollen gesteckt, und die
übrigen in einen starken Zopf geflochten, der
ihm den Rücken herunter hing. Da mir seine
Kleidung einen Menschen von geringem Stande zu
bezeichnen schien, glaubte ich, er würde es
nicht übelnehmen, wenn ich auf seine
Beschäftigung aufmerksam wäre, und daher
fragte ich ihn, was er suchte? - "Ich suche",
antwortete er mit einem tiefen Seufzer, "Blumen -
und finde keine". - "Das ist auch die Jahrszeit
nicht." sagte ich lächelnd.
- "Es gibt so viele Blumen", sagte er, indem er
zu mir herunterkam. "In meinem Garten sind Rosen
und Jelängerjelieber zweierlei Sorten, eine
hat mir mein Vater gegeben, sie wachsen wie
Unkraut; ich suche schon zwei Tage darnach und kann
sie nicht finden. Da haußen sind auch immer
Blumen, gelbe und blaue und rote, und das
Tausendgüldenkraut hat ein schönes
Blümchen. Keines kann ich finden". - Ich
merkte was Unheimliches, und drum fragte ich durch
einen Umweg:
"was will er denn mit den Blumen?"- Ein
wunderbares, zuckendes Lächeln verzog sein
Gesichte. "Wenn er mich nicht verraten will, "sagte
er, indem er den Finger auf den Mund drückte,
"ich habe meinem Schatz einen Strauß
versprochen". - "Das ist brav", sagte ich. - "O!"
sagte er, "sie hat viel andere Sachen, sie ist
reich".- "Und doch hat sie seinen Strauß
lieb", versetzte ich. - "O!"fuhr er fort," sie hat
Juwelen und eine Krone". - "Wie heißt sie
denn?" - "Wenn mich die Generalstaaten bezahlen
wollten," versetzte er, "ich wär' ein anderer
Mensch! Ja, es war einmal eine Zeit, da mir es so
wohl war! Jetzt ist es aus mit mir. Ich bin nun".
Ein nasser Blick zum Himmel drückte alles aus.
- "Er war also glücklich?" fragte ich. - "Ach
ich wollte, ich wäre wieder so!" sagte er "Da
war mir es so wohl, so lustig, so leicht wie einem
Fisch im Wasser!"-
"Heinrich!" rief eine alte Frau, die den Weg
herkam, "Heinrich, wo steckst du? Wir haben dich
überall gesucht, komm zum Essen".- "Ist das
euer Sohn?" fragt' ich, zu ihr tretend. - "Wohl,
mein armer Sohn!" versetzte sie". Gott hat mir ein
schweres Kreuz aufgelegt". - "Wie lange ist er so?"
fragte ich. - "So stille", sagte sie, "ist er nun
ein halbes Jahr. Gott sei Dank, daß er nur so
weit ist, vorher war er ein ganzes Jahr rasend, da
hat er an Ketten im Tollhause gelegen. Jetzt tut er
niemand nichts, nur hat er immer mit Königen
und Kaisern zu schaffen. Er war ein so guter,
stiller Mensch, der mich ernähren half, seine
schöne Hand schrieb, und auf einmal wird er
tiefsinnig, fällt in ein hinziges Fieber,
daraus in Raserei, und nun ist er, wie Sie ihn
sehen. Wenn ich Ihnen erzählen sollte, Herr".
- Ich unterbrach den Strom ihrer Worte mit der
Frage: "was war denn das für eine Zeit, von
der er rühmt, daß er so glücklich,
so wohl darin gewesen sei?" - "der törichte
Mensch!" rief sie mit mitleidigem Lächeln, "da
meint er die Zeit, da er von sich war, das
rühmt er immer; das ist die Zeit, da er im
Tollhause war, wo er nichts von sich wußte".
-
Das fiel mir auf wie ein Donnerschlag, ich
drückte ihr ein Stück Geld in die Hand
und verließ sie eilend. Da du glücklich
warst! Rief ich aus, schnell vor mich hin nach der
Stadt zu gehend, da dir es wohl war wie einem Fisch
im Wasser! - Gott im Himmel! Hast du das zum
Schicksale der Menschen gemacht, daß sie
nicht glücklich sind, als ehe sie zu ihrem
Verstande kommen und wenn sie ihn wieder verlieren!
- Elender! Und auch wie beneide ich deinen
Trübsinn, die Verwirrung deiner Sinne, in der
du verschmachtest! Du gehst hoffnungsvoll aus,
deiner Königin Blumen zu pflücken - im
Winter -- und trauerst, da du keine findest, und
begreifst nicht, warum du keine finden kannst. Und
ich - und ich gehe ohne Hoffnung, ohne Zweck heraus
und kehre wieder heim, wie ich gekommen bin. - Du
wähnst, welcher Mensch du sein würdest,
wenn die Generalstaaten dich bezahlten. Seliges
Geschöpf, das den Mangel seiner
Glückseligkeit einer irdischen Hindernis
zuschreiben kann! Du fühlst nicht, du
fühlst nicht, daß in deinem
zerstörten Herzen, in deinem zerrütteten
Gehirne dein Elend liegt, wovon alle Könige
der Erde dir nicht helfen können. Müsse
der trostlos umkommen, der eines Kranken spottet,
der nach der entferntesten Quelle reist, die seine
Krankheit vermehren, sein Ausleben schmerzhafter
machen wird! Der sich über das bedrängte
Herz erhebt, das, um seine Gewissensbisse
loszuwerden und die Leiden seiner Seele abzutun,
eine Pilgrimschaft nach dem heiligen Grabe tut.
Jeder Fußtritt, der seine Sohlen auf
ungebahntem Wege durchschneidet, ist ein
Linderungstropfen der geängsteten Seele, und
mit jeder ausgedauerten Tagereise legt sich das
Herz um viele Bedrängnisse leichter nieder. --
Und dürft ihr das Wahn nennen, ihr
Wortkrämer auf euren Polstern?- Wahn! - o
Gott!
Du siehst meine Tränen! Mußtest du,
der du den Menschen arm genug erschufst, ihm auch
Brüder zugeben, die ihm das bißchen
Armut, das bißchen Vertrauen noch raubten,
das er auf dich hat, auf dich, du Allliebender!
Denn das Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu
den Tränen des Weinstockes, was ist es als
Vertrauen zu dir, daß du in alles, was uns
umgibt, Heil - und Linderungskraft gelegt hast, der
wir so stündlich bedürfen? Vater, den ich
nicht kenne! Vater, der sonst meine ganze Seele
füllte und nun sein Angesicht von mir gewendet
hat, rufe mich zu dir! Schweige nicht länger!
Dein Schweigen wird diese dürstende Seele
nicht aufhalten - und würde ein Mensch, ein
Vater, zürnen können, dem sein unvermutet
rückkehrender Sohn um den Hals fiele und
riefe: "ich bin wieder da, mein Vater! Zürne
nicht, daß ich die Wanderschaft abbreche, die
ich nach deinem Willen länger aushalten
sollte. Die Welt ist überall einerlei, auf
Mühe und Arbeit Lohn und Freude; aber was soll
mir das? Mir ist nur wohl, wo du bist, und vor
deinem Angesichte will ich leiden und
genießen". - und du, lieber himmlischer
Vater, solltest ihn von dir weisen?
Am
1. Dezember 1772
Seitenanfang
Wilhelm! Der Mensch, von dem ich dir schrieb,
der glückliche Unglückliche, war
Schreiber bei Lottens Vater, und eine Leidenschaft
zu ihr, die er nährte, verbarg, entdeckte und
worüber er aus dem Dienst geschickt wurde, hat
ihn rasend gemacht. Fühle bei diesen trocknen
Worten, mit welchem Unsinn mich die Geschichte
ergriffen hat, da mir sie Albert ebenso gelassen
erzählte, als du sie vielleicht liesest.
Am
4. Dezember 1772
Seitenanfang
Ich bitte dich - siehst du, mit mir ist's aus,
ich trag' es nicht länger! Heute saß ich
bei ihr - saß, sie spielte auf ihrem Klavier,
mannigfaltige Melodien, und all den Ausdruck! All!
- All! - Was willst du? - Ihr Schwesterchen putzte
ihre Puppe auf meinem Knie. Mir kamen die
Tränen in die Augen. Ich neigte mich, und ihr
Trauring fiel mir ins Gesicht - meine Tränen
flossen - und auf einmal fiel sie in die alte,
himmelsüße Melodie ein, so auf einmal,
und mir durch die Seele gehn ein Trostgefühl
und eine Erinnerung des Vergangenen, der Zeiten, da
ich das Lied gehört, der düstern
Zwischenräume des Verdrusses, der
fehlgeschlagenen Hoffnungen, und dann - ich ging in
der Stube auf und nieder, mein Herz erstickte unter
dem Zudringen. - "Um Gottes willen,"sagte ich, mit
einem heftigen Ausbruch hin gegen sie fahrend,"um
Gottes willen, hören Sie auf!" - sie hielt und
sah mich starr an". Werther," sagte sie mit einem
Lächeln, das mir durch die Seele
ging,"Werther, Sie sind sehr krank, Ihre
Lieblingsgerichte widerstehen Ihnen. Gehen Sie! Ich
bitte Sie, beruhigen Sie sich". - ich riß
mich von ihr weg und - Gott! Du siehst mein Elend
und wirst es enden.
Am
6. Dezember 1772
Seitenanfang
Wie mich die Gestalt verfolgt! Wachend und
träumend füllt sie meine ganze Seele!
Hier, wenn ich die Augen schließe, hier in
meiner Stirne, wo die innere Sehkraft sich
vereinigt, stehen ihre schwarzen Augen. Hier! Ich
kann dir es nicht ausdrücken. Mache ich meine
Augen zu, so sind sie da; wie ein Meer, wie ein
Abgrund ruhen sie vor mir, in mir, füllen die
Sinne meiner Stirn.
Was ist der Mensch, der gepriesene Halbgott!
Ermangeln ihm nicht eben da die Kräfte, wo er
sie am nötigsten braucht? Und wenn er in
Freude sich aufschwingt oder im Leiden versinkt,
wird er nicht in beiden eben da aufgehalten, eben
da zu dem stumpfen, kalten Bewußtsein wieder
zurückgebracht, da er sich in der Fülle
des Unendlichen zu verlieren sehnte?
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