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00.
Vorwort
01.
Meine Eltern
02.
Gascogne und Cevennen - Französische Vettern - Unsere
Ruppiner Tage
03.
Unsere Übersiedelung nach Swinemünde - Ankunft
daselbst
04.
Unser Haus, wie wir's vorfanden
05.
Unser Haus, wie's wurde
06.
Die Stadt; ihre Bewohner und ihre
Honoratioren
07.
Die Schönebergs und die Scherenbergs
08.
Die Krauses
09.
Wie wir in unserem Hause lebten - Sommer- und Herbsttage -
Schlacht- und Backfest
10.
Wie wir in unserem Hause lebten (Fortsetzung) - "Große
Gesellschaft"
11.
Was wir in Haus und Stadt
erlebten
12.
Was wir in der Welt erlebten
13.
Wie wir in die Schule gingen und lernten
14.
Wie wir erzogen wurden - Wie wir spielten in Haus und
Hof
15.
Wie wir draußen spielten, an Strom und
Strand
16.
Vierzig Jahre später
17.
Allerlei Gewölk
18.
Das letzte Halbjahr
|
Theodor Fontane
(1819 - 1898)
Meine Kinderjahre
|
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-
- Autobiographischer
Roman
- Textauszüge von Theodor
Fontane
mit Fotos von Martin Schlu
-
- Erstes Kapitel.
Meine Eltern
-
- An einem der letzten Märztage
des Jahres 1819 hielt eine Halbchaise vor der
Löwen-Apotheke in Neu-Ruppin, und ein junges Paar,
von dessen gemeinschaftlichem Vermögen die Apotheke
kurz vorher gekauft worden war, entstieg dem Wagen und
wurde von dem Hauspersonal empfangen. Der Herr - man
heiratete damals (unmittelbar nach dem Kriege) sehr
früh - war erst dreiundzwanzig, die Dame
einundzwanzig Jahre alt. Es waren meine
Eltern.
-
-
-
- Ich gebe zunächst eine
biographische Skizze beider.
-
- Mein Vater Louis Henri Fontane, geb.
am 24. März 1796, war der Sohn des Malers und
Zeichenlehrers Pierre Barthélemy Fontane. Was
dieser, mein Großvater, als Maler leistete,
beschränkte sich vorwiegend auf Pastell-Kopien nach
englischen Vorbildern; als Zeichenlehrer aber muß
er tüchtig gewesen sein, denn er kam zu Beginn des
neuen Jahrhunderts an den Hof und wurde mit dem
Zeichenunterricht der ältesten königlichen
Prinzen betraut. Dies leitete sein Glück ein.
Königin Luise wohnte gelegentlich dem Unterrichte
der Kinder bei, und alsbald an dem gewandten und ein sehr
gutes Französisch sprechenden Manne Gefallen
findend, nahm sie denselben als Kabinettssekretär in
ihren persönlichen Dienst. Vielleicht geschah es
auch auf Vorschlag des um jene Zeit überaus
einflußreichen Kabinettsrats Lombard, der dabei den
Zweck verfolgen mochte, seine auf ein Bündnis mit
Frankreich hinarbeitende Politik durch bei Hofe
verkehrende Persönlichkeiten verstärkt zu
sehen. Die Gegner waren von dieser Ernennung wenig
erbaut, und der nationalgesinnte Gottfried Schadow,
damals noch nicht der „alte Schadow", schrieb in
sein Tagebuch: „Ein Herr Fontane, seines Zeichens
Maler, ist Kabinettssekretär der Königin
geworden; er malt schlecht, aber er spricht gut
französisch." Ob Pierre Barthélemy, mein
Großvater, in seiner Stellung Einfluß
geübt oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis;
jedenfalls, wenn ein solcher Einfluß da war, war er
von kurzer Dauer; denn dem Sturze Lombards, der nicht
lange mehr auf sich warten ließ, folgte die
Katastrophe von Jena; der Hof, flüchtig werdend,
ging nach Königsberg, und Pierre Barthélemy,
dessen Dienste keine weitere Verwendung mehr finden
konnten, erhielt, in Berlin zurückbleibend, wohl als
eine Art Abfindung, das Amt eines Kastellans von
Schloß Nieder-Schönhausen. Dorthin
übersiedelte er nun, und von hier aus besuchte mein
Vater drei Jahre lang, also wahrscheinlich bis Herbst
1809, das Gymnasium zum Grauen Kloster. Es waren harte
Schuljahre, denn der weite, wenigstens anderthalb Stunden
lange Weg nach Berlin erforderte, daß jeden Morgen
um spätestens sechs Uhr aufgestanden werden
mußte. „Winters froren wir bitterlich, und es
wurde erst besser, als wir, mein älterer Bruder und
ich, blaue mit postorangefarbenem Kattun gefütterte
Mäntel als Weihnachtsgeschenk erhielten. Aber es
erwuchs uns daraus keine reine Freude. Jedesmal wenn sich
der Wind in den mit einem gleichfarbigen Kattun
gefütterten großen Kragen setzte, stand uns
der postorangefarbene Kragen wie ein Heiligenschein zu
Häupten, und der Spott der Straßenjungen war
immer hinter uns her." Es war dies eine
Lieblingsgeschichte meines Vaters, der an ihr bis in sein
Alter hinein festhielt und nichts davon wissen wollte,
wenn ich ihm lachend von meinen eigenen, dem Vorstehenden
sehr verwandten Schicksalen erzählte. „Ja,
Papa", begann ich dann wohl, „so bin ich, als ich so
alt war wie du damals, auch gequält worden. Mama
ließ mir um jene Zeit, ich war eben mit ihr in
Berlin angekommen, Rock, Weste und Beinkleid aus einem
milchfarbenen Tuchstoff machen, es war ein billiger Rest,
und in der Klödenschen Schule hieß ich dann,
ein ganzes Jahr lang, der 'Antiquar aus der alten Post'.
Der trug nämlich gerade solchen milchfarbenen Anzug
und war überhaupt eine Karikatur." - „Kann
schon sein", schmunzelte mein Vater, „so was ist
mitunter erblich; aber Postorange war doch schlimmer,
dabei muß ich bleiben. Es schrie förmlich in
die Welt hinein."
-
- Von guter Schülerschaft konnte
bei den zwei Meilen Wegs, die jeden Tag zurückgelegt
werden mußten, nach eignem Zeugnis meines Vaters,
nicht wohl die Rede sein. Es darf aber aus dem Umstande,
daß er zeitlebens selbst von einer mangelhaften
Schulbildung sprach, nicht auf eine Trauer über
diesen Tatbestand geschlossen werden. Beinah das
Gegenteil. Er hielt es nämlich, wie viele zu jener
Zeit, mit gesundem Menschenverstand und Lebekunst, oder,
wie es in unserer Haussprache hieß, mit „bon
sens" und „savoir faire" und war, ganz vereinzelte
Ausnahmen abgerechnet, nie dazu zu bringen, sich zu
willfähriger Anerkennung der „homines literati"
aufzuraffen. Es gab das, wenn er seinen sogenannten
„ehrlichen Tag" hatte, den Tag also, wo er aus
seiner sonstigen Politesse herausfiel, mitunter recht
verlegene Situationen für uns Kinder; im
großen und ganzen aber bin ich ihm doch das Zeugnis
schuldig, daß er, den ihm persönlich zu
Gesichte kommenden Studierten gegenüber, in neunzehn
Fällen von zwanzigen immer im Rechte war. Und es
konnte dies auch kaum anders sein. Er war - weil er viel
Zeit hatte, leider zu viel, was für ihn
verhängnisvoll wurde - von Beginn seiner
Selbständigkeit an, ein überaus fleißiger
Journal- und Zeitungsleser, und weil er sich nebenher
angewöhnt hatte, wegen jedes ihm unklaren Punktes in
den Geschichts- und Geographiebüchern, besonders
aber im Konversationslexikon nachzuschlagen, so
besaß er, auf gesellschaftliche Konversation hin
angesehn, eine offenbare Überlegenheit über die
meisten damals in kleinen Nestern sich vorfindenden
Ärzte, Stadtrichter, Bürgermeister und Syndizi,
die, weil sie sich tagaus tagein in ihrem Berufe
quälen mußten, sehr viel weniger Zeit zum
Lesen hatten. Erlitt er mal eine Niederlage, so gab er
diese freimütig zu, ja, pries sogar seinen Sieger,
blieb aber dabei, daß es ein Ausnahmefall
sei.
-
- Und nun zurück zum Herbst 1809,
wo mein Vater als Lehrling in die Berliner
Elefanten-Apotheke eintrat. Diese Apotheke befand sich
schon damals, wie heute noch, am oberen Ende der
Leipziger Straße, jedoch nicht genau an
gegenwärtiger Stelle, sondern eben dieser Stelle
gegenüber, an der durch Leipziger und
Kommandantenstraße gebildeten Ecke. Bis vor wenig
Jahren sah man noch den Elefanten, in Höhe des
ersten Stocks, aus dem großen Eckpfeiler
heraustreten; jetzt ist er fort, und nur die zahlreich
über den Parterrefenstern angebrachten und an
Elefantenrüsseln hängenden Gaslaternen erinnern
noch an die frühere Geschichte des
Hauses.
-
- In eben dieser Elefanten-Apotheke war
mein Vater viertehalb Jahr lang und verlebte diese Zeit
mutmaßlich nicht gut und nicht schlecht, was ich
daraus schließe, daß er über diesen
Lebensabschnitt nie sprach. Vielleicht hatte dies
Schweigen aber auch seinen Grund einfach in den
großen Ereignissen, die folgten, so daß ihm
für die voraufgegangenen Jahre von
Durchschnittscharakter kein rechtes Interesse blieb.
Herbst 1813 wäre seine Lehrzeit zu Ende gewesen,
indessen König Friedrich Wilhelms III. Aufruf an
sein Volk kürzte diese Zeit um ein volles halbes
Jahr, denn unter den sich freiwillig zum Eintritt
Meldenden war auch mein Vater, damals noch nicht volle
siebzehn Jahre alt. Über die nun folgende Kriegszeit
habe ich ihn oft sprechen hören, meist durch mich
veranlaßt, der ich nicht genug davon hören
konnte. „Du warst also wohl sehr patriotisch, lieber
Papa." - „Nein, höchstens Durchschnitt. Offen
gestanden, ich machte nur so mit. Wenn man siebzehn Jahre
alt ist, erscheint einem ein freies Soldatenleben
hübscher als ein Lehrlingsleben. Und wie's im Liede
heißt: 'Eine jede Kugel trifft ja nicht.' Aber wenn
ich auch anders hätte denken wollen, ich hatte keine
rechte Wahl. In das Tuchgeschäft von Köppen und
Schier, dessen du dich, weil du ja selber in der
Burgstraße gewohnt hast, vielleicht noch entsinnst,
trat damals eine adlige Dame ein und wurde von einem
hübschen jungen Manne mit blondem
Schnurrbärtchen bedient. 'Ich wundre mich, Sie hier
hinter dem Ladentisch zu sehn.' - 'Ich nicht, meine
gnädigste Frau; ich stehe hier lieber als anderswo.'
- 'Das seh' ich', antwortete die Dame, und dem
hübschen Blondin eine Ohrfeige gebend, verließ
sie das Lokal. Das war so die Stimmung damals, und weil
ich dergleichen nicht gern erleben wollte, wurd' ich als
freiwilliger Jäger eingekleidet und empfing eine
Büchse." Diese sogenannte „Büchse", die
später in den Flurwinkeln unserer verschiedenen
Wohnungen verrostet und verstaubt umherstand, war eine
Flinte von allergewöhnlichster Beschaffenheit, was
übrigens keine weitere Bedeutung hatte, da mein
Vater, seinem eignen Zeugnis nach, auch mit einer
gezogenen Büchse nicht getroffen haben würde.
Anfang April verließ er etwa mit fünfzig
anderen Freiwilligen Berlin und zog auf Sachsen zu, wo
sich die kriegerischen Ereignisse bereits vorbereiteten.
An Spitze dieser Fünfzig stand ein Hauptmann von
Kesteloot, ein vortrefflicher Soldat aus der alten Armee.
Ausbildung und Führung waren ihm anvertraut. Am
ersten Tage rückte man spät nachmittags in
Trebbin ein; die meisten waren fußkrank, humpelten
und sahen sehr niedergedrückt aus. Kesteloot
ließ sie noch einmal antreten und sagte: „Wenn
unser allergnädigster König und Herr darauf
angewiesen ist, mit Ihnen den Kaiser Napoleon zu
schlagen, so tut er mir schon heute leid." Der Zustand
der kleinen Truppe verbesserte sich aber, und man
erreichte die Umgegend von Leipzig in leidlicher
Verfassung. Vier Wochen später, am 2. Mai, war die
blutige Schlacht bei Groß-Görschen. Die
freiwilligen Jäger wurden einem Garde-Bataillon
eingereiht und machten in diesem die Schlacht mit. Mein
Vater erhielt eine Kugel in den Tornister, die, nach
Durchbohrung eines kleinen Wäschevorrats, in den
Pergamentblättern einer dicken Brieftasche
steckenblieb. Diese Brieftasche, mit der Kugel darin, hab
ich mir oft zeigen lassen.
-
- „Du mußt wissen, mein
lieber Sohn, es war kein Schuß von hinten; wir
stürmten einen Hohlweg, auf dessen Rändern,
rechts und links, französische Voltigeurs standen.
Also Seitenschuß." Das unterließ er nie zu
sagen; er war vollkommen unrenommistisch, aber darauf,
daß dies ein „Seitenschuß" gewesen sei,
legte er doch Gewicht.
-
- Der Schlacht bei
Groß-Görschen folgte die bei Bautzen und
dieser wiederum eine Reihe kleinerer Scharmützel und
Gefechte. „Die waren dir nun wohl vollkommen
gleichgültig?" fragte ich. - „Kann ich durchaus
nicht sagen." - „Ich dachte, daß die Macht der
Gewohnheit..." - „Diese Macht der Gewohnheit ist im
Kriege, wenigstens nach meiner persönlichen
Erfahrung, von keinerlei Trost und Bedeutung. Eher das
Gegenteil. Man sagt sich, wer drei- oder viermal heil
durchgekommen ist, hat Anspruch, das fünftemal dran
glauben zu müssen. Eine Karte, die viermal gewonnen,
hat immer Chance, das fünftemal zu
verlieren."
-
- Nach dem Waffenstillstande, bei
Wiederausbruch der Feindseligkeiten, hatte sich meines
Vaters Stellung erheblich geändert; er war
inzwischen, ich weiß nicht, ob auf seinen Betrieb
oder auf Antrag seines Vaters, aus dem Heere
zurückgezogen und einer Feldlazarett-Apotheke
zugewiesen worden. In dieser machte er nun den Rest des
Krieges mit, sprach aber nie davon.
-
- Sommer 1814 war er wieder in Berlin
und begann nun in verschiedene Stellungen einzutreten,
oder wie der Fachausdruck lautet, „zu
konditionieren". Zuerst in Danzig, das er mit der
damaligen Fahrpost, wie er gern erzählte, in sechs
Tagen und sechs Nächten erreichte. Die dort
zugebrachte Zeit blieb ihm durchs Leben eine besonders
liebe Erinnerung. Seinem Danziger Engagement folgten
ähnliche Stellungen in Berlin selbst, bis 1818 die
Zeit für ihn da war, sich zum Staatsexamen zu
melden. Als er in den Vorbereitungen dazu war, lernte er
unter Verhältnissen, über die ich auf den
nächsten Seiten berichten werde, meine Mutter kennen
und verlobte sich mit ihr.
-
- Meine Mutter, Emilie Labry, wurde den
21. September 1797 als älteste Tochter des
Seidenkaufmanns Labry, Firma Humbert und Labry, geboren.
Handelsobjekt der Firma waren nicht gewebte Seidenstoffe,
sondern Seidendocken, worauf meine Mutter Gewicht legte.
Sie hielt die Docken für vornehmer als Zeug nach der
Elle. Ob und wieweit sie darin recht hatte, kann ich
nicht sagen; aber dessen entsinne ich mich deutlich,
daß sie, vielleicht weil sie in hohem Maße
den Sinn für Repräsentation hatte, von den
Lebensgewohnheiten ihres Vaters, und zwar viel mehr als
von seinem Charakter oder sonstigem Tun, mit einem
gewissen freudigen Respekte sprach. Wenn wir als Kinder,
und auch später noch als Halberwachsene, mit ihr bei
Josty Schokolade tranken und dabei die kleinen,
bräunlich gerösteten Korianderbiskuits, die so
leicht zerkrümeln und abbrechen, vorsichtig
eintunkten, unterließ sie nie, uns zu sagen: "Ja,
seht, Kinder, solche Korianderbiskuits, daran hing euer
Großvater Labry. Aber aus Schokolade machte er sich
nichts. Er trank vielmehr jeden Tag um elf und um sechs
ein Glas französischen Rotwein und aß dazu
nichts als zwei solcher Biskuits, immer mit den
zierlichsten Handbewegungen, und war überhaupt sehr
mäßig. Ihr habt nichts davon geerbt, weder die
Handbewegungen noch die Mäßigkeit." Letzteres
war nun allerdings sehr richtig, denn ich berechnete,
während sie so sprach, wie viele Tassen ich wohl
würde trinken können.
-
- Meine Großmutter
mütterlicherseits, also die Mutter meiner Mutter,
war eine geborene Mumme, von deren Familie ich nicht
weiß, ob sie nicht, trotz ihres deutsch klingenden
Namens, doch vielleicht mit zur Kolonie gehörte.
Jedenfalls bildeten die Beziehungen zu den Mummes einen
besonderen Stolz meiner Mutter, vielleicht nur deshalb,
weil "Onkel Mumme" Rittergutsbesitzer auf Klein-Beeren
war und unter anscheinend glänzenden
Verhältnissen lebte. Ich entsinne mich, daß
er, neben allerhand Chaisen und Halbchaisen, auch einen
Char banc mit langen kirschroten Sammetpolstern
besaß, und in diesem weithin leuchtenden
Prachtstück, wenn wir in Berlin zu Besuch waren,
nach Klein-Beeren hinaus abgeholt zu werden, bedeutete
uns allen, aber am meisten meiner Mutter, ein hohes Fest,
nicht viel anders, wie wenn wir zu Hofe gefahren
wären. Später schlief das alles ein. Ich
glaube, Onkel Mummes Stern verblaßte.
-
- Das erwähnte
Seidendocken-Geschäft befand sich, wenn ich recht
berichtet bin, in der Brüderstraße, und hier
verblieb auch die Labrysche Familie, als das Haupt
derselben, mein Großvater Labry, bei sehr jungen
Jahren (kaum vierzig Jahre alt) gestorben war. Die Witwe
bezog ein in der Nähe des Petriplatzes gelegenes
Haus, darin sie mehrere Jahre lang die erste Etage
bewohnte, denn ihre Mittel waren für damalige Zeit
nicht unbedeutend. In eben dieser Wohnung erlebte meine
Mutter den Brand der Petrikirche, ein Ereignis, das einen
großen Eindruck auf sie machte und bis in ihre
letzten Lebensjahre hinein einen bevorzugten
Gesprächsstoff für sie bildete. Sie entsann
sich jedes Kleinsten, das dabei vorgekommen war. Ihre
damals schon kränkelnde Mutter starb wenige Jahre
später, und da die von vieler Not begleiteten
Kriegszeiten nicht Zeiten waren, in denen
Familienangehörige sich der Verwaisten annehmen
konnten, so kamen die jüngeren Kinder in das
französische Waisenhaus und nur meine Mutter in ein
Pensionat, wozu die Zinsen ihres Vermögens
vollkommen ausreichten. Sie wurde bald ein Liebling des
Kreises, den sie vorfand, und hatte den vollsten Anspruch
darauf, denn sie war jederzeit gütig und
hilfsbereit. Erst in meinen alten Tagen ist mir der Sinn
für ihre Superiorität aufgegangen. Als ich
selber noch jung war, erschien mir vieles in ihrer
Haltung, besonders meinem Vater gegenüber, zu hart
und zu herbe, später indes habe ich einsehen
gelernt, wie richtig alles war, was sie tat, vor allem
auch, was sie nicht tat, und beklage jetzt jeden gegen
sie gehegten Zweifel. Sie war dem ganzen Rest der
Familie, der damaligen wie der jetzigen, weit
überlegen, nicht an sogenannten Gaben, aber an
Charakter, auf den doch immer alles ankommt. Ihre ganz
südfranzösische Heftigkeit, die mitunter
geradezu ängstliche Formen annahm, war vielleicht
nicht immer zu billigen, aber doch schließlich
nichts anderes als eine beneidenswerte Kraft, sich
über Pflichtverletzung und unsinnige
Lebensführung tief empören zu können, und
ich muß es als ein großes Unglück
ansehen, daß diese mir jetzt klar zutage liegenden
Vorzüge von uns allen zwar immer gewürdigt,
aber in ihrem vollen Wert und Recht nie ganz erkannt
wurden. Ich werde in weiterem vieles zu berichten haben,
das diese Worte bestätigt.
-
- Das schon erwähnte Pensionat, in
das meine Mutter, achtzehn Jahre alt, eintrat, war das
der Madame Lionnet, und unter den verschiedenen
Freundinnen, die sie hier fand, stand Louise Rogée
obenan, damals eine sehr beliebte, fast gefeierte
Schauspielerin, aber wie's scheint, in der Pension
verblieben. Eines Tages hieß es, Louise
Rogée habe sich verlobt, und zwar mit einem jungen
Architekten, dem ältesten Sohne des
Kabinettssekretäts Pierre Barthélemy Fontane.
Die Nachricht bestätigte sich, und auf einem der
gelegentlichen Besuche, die Louise Rogée, jedesmal
von einer Pensionsfreundin begleitet, im Hause ihres
künftigen Schwiegervaters machte, lernte meine
Mutter den zweiten Sohn Pierre Barthélemys kennen
- meinen Vater. Man fand rasch Gefallen aneinander, und
da die Verhältnisse glücklich lagen, kam es
sehr bald zur Verlobung, und das Haus meines
Großvaters sah auf kurze Zeit zwei Brautpaare unter
seinem Dache
(1)
.
-
- Der Verlobung meines Vaters folgte
das Staatsexamen, damals nicht viel mehr als eine Form,
und an das glücklich bestandene Examen schloß
sich, beinah unmittelbar, der Ankauf der Neu-Ruppiner
Apotheke. Am 24. März, dem Geburtstage meines
Vaters, war Hochzeit, und drei Tage später traf das
junge Paar in seiner neuen Heimat ein.
-
-
- (1) Nur auf kurze Zeit, denn noch
im selben Jahre ging die Verlobung Louise
Rogées zurück, weil diese mittlerweile
Karl von Holtei kennengelernt hatte, dessen Gattin sie
wurde. Mit ihrem ersten Verlobten, der sich neben der
eminenten Holteischen Liebenswürdigkeit nicht zu
behaupten wußte, würde sie wahrscheinlich
glücklichere oder doch minder unglückliche
Tage verlebt haben, aber es war damals nicht
vorauszusehen und würde, wenn doch,
mutmaßlich unbeachtet geblieben
sein.
-
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