zurück
00.
Vorwort
01.
Meine Eltern
02.
Gascogne und Cevennen - Französische Vettern - Unsere
Ruppiner Tage
03.
Unsere Übersiedelung nach Swinemünde - Ankunft
daselbst
04.
Unser Haus, wie wir's vorfanden
05.
Unser Haus, wie's wurde
06.
Die Stadt; ihre Bewohner und ihre
Honoratioren
07.
Die Schönebergs und die Scherenbergs
08.
Die Krauses
09.
Wie wir in unserem Hause lebten - Sommer- und Herbsttage -
Schlacht- und Backfest
10.
Wie wir in unserem Hause lebten (Fortsetzung) - "Große
Gesellschaft"
11.
Was wir in Haus und Stadt
erlebten
12.
Was wir in der Welt erlebten
13.
Wie wir in die Schule gingen und lernten
14.
Wie wir erzogen wurden - Wie wir spielten in Haus und
Hof
15.
Wie wir draußen spielten, an Strom und
Strand
16.
Vierzig Jahre später
17.
Allerlei Gewölk
18.
Das letzte Halbjahr
|
Theodor Fontane
(1819 - 1898)
Meine Kinderjahre
|
zurück
- weiter
-
- Autobiographischer
Roman
- Textauszüge von Theodor
Fontane
mit Fotos von Martin Schlu
-
- Zweites Kapitel.
Gascogne und Cevennen - Französische Vettern -
Unsere Ruppiner Tage
- In ihrer Ruppiner Apotheke
verlebten meine Eltern die ersten sieben Jahre ihrer Ehe,
vorwiegend glückliche Jahre, trotzdem sich schon
damals das zeigte, was dieses Glück früher oder
später gefährden mußte. Von diesen sieben
Jahren werde ich hier zu berichten haben; aber ehe ich
zur Darstellung des wenigen übergehe, was ich aus
jener Zeit noch weiß, möchte ich, wozu mir das
vorige Kapitel nicht Gelegenheit bot, hier noch einiges
über den französischen Ursprung meiner Eltern,
über ihre Heimat und Abstammung sagen
dürfen.
-
- Nicht weit von der Rhonemündung,
auf dem etwa zwischen Toulouse und Montpellier gelegenen
Gebiet, stoßen von Westen her die Vorlande der
Gascogne, von Norden und Osten her die Ausläufer der
Cevennen zusammen, und auf diesem
verhältnismäßig kleinen Stück Erde,
wahrscheinlich im jetzigen Departement Hérault
oder doch an seiner Peripherie, waren meine Vorfahren,
väterlicher- wie mütterlicherseits, zu Hause.
Nächste Nachbarn also. Weil sich indessen auf diesem
engen Raume zwei grundverschiedene Volksstämme
berühren, so darf es nicht sonderlich
überraschen, daß "mes ancÍtres", trotz
räumlicher Nachbarschaft, dieser
Stammesverschiedenheit entsprachen, eine Verschiedenheit,
die, völlig unbeeinflußt durch die inzwischen
erfolgte Verpflanzung ins Brandenburgische, sich auch
noch in meinen Eltern zeigte: mein Vater war ein
großer, stattlicher Gascogner voll Bonhomie, dabei
Phantast und Humorist, Plauderer und
Geschichtenerzähler, und als solcher, wenn ihm am
wohlsten war, kleinen Gasconnaden nicht abhold; meine
Mutter andererseits war ein Kind der südlichen
Cevennen, eine schlanke, zierliche Frau von schwarzem
Haar, mit Augen wie Kohlen, energisch, selbstsuchtslos
und ganz Charakter, aber, wie schon in dem
Einleitungskapitel erzählt, von so großer
Leidenschaftlichkeit, daß mein Vater halb ernst-,
halb scherzhaft von ihr zu sagen liebte: "Wäre sie
im Lande geblieben, so tobten die Cevennenkriege
noch."
-
- Dies paßte jedoch, wie gleich
hier bemerkt werden mag, nur ganz allgemein auf ihr
leidenschaftliches Temperament, nicht etwa auf ihren
Religionseifer. Von diesem hatte sie keine Spur, war
vielmehr eminent ein Kind der Aufklärungszeit, in
der sie geboren, trotzdem sie, weil sie das Genfertum
für vornehmer hielt, mit einem gewissen Nachdruck
versicherte: "Wir sind reformiert."
-
- Gascogne und Cevennen lagen für
meine Eltern, als sie geboren wurden, schon um mehr als
hundert Jahre zurück, aber die Beziehungen zu
Frankreich hatten beide, wenn nicht in ihrem Herzen, so
doch in ihrer Phantasie, nie ganz aufgegeben. Sie
repräsentierten noch den unverfälschten
Kolonistenstolz. Weil sie aber stark empfinden mochten,
daß mit ihren nachweisbaren Ahnen, die bei den
Fontanes als Zinngießer, potiers d'Ètain,
bei den Labrys als Strumpfwirker, faiseurs de bas,
feststanden, nicht viel Staat zu machen sei, so
ließen sie die amtlich geführte kolonistische
Stammtafel fallen und suchten statt dessen, auf gut
Glück, nach vornehmen französischen
Vetterschaften, also nach einem wirklichen oder
eingebildeten Familienanhang, der, in der alten Heimat
zurückgeblieben, sich mittlerweile zu Ruhm und
Ansehn emporgearbeitet hatte.
-
- Mein Vater hatte es darin leichter
als meine Mutter, weil er wenigstens innerhalb seines
Namens bleiben konnte. Zu Paris lebte nämlich, bis
in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts, Louis de
Fontanes, seinerzeit Großmeister der
Universität und Unterrichtsminister, der, unter
Napoleon, bei den verschiedensten feierlichen
Gelegenheiten immer die großen Kasualreden gehalten
hatte, ein sehr kluger, sehr feiner, sehr vornehmer Herr,
dessen Familie, wie man in allen Büchern nachlesen
konnte, wirklich im südlichen Frankreich, wenn auch
nicht zwischen Toulouse und Montpellier zu Hause war.
Dieser wurde nun ohne weiteres als Vetter erklärt,
wobei der Umstand, daß er sich mit einem "s"
schrieb, als besonderer und ausschlaggebender Beweis der
Familienzugehörigkeit angesehen wurde. Unsere
Familie wußte nämlich aus Tradition, daß
auch mein Großvater, der Kabinettssekretär der
Königin, sich, bis etwa zu Beginn des Jahrhunderts,
"Fontanes" geschrieben und dann erst, aus
unaufgeklärtem Grunde, das "s" weggelassen habe.
Diese Tradition wurde durch allerhand Schriftstücke
bestätigt; mein Vater aber ging weiter und nahm,
weil es ihm so paßte, den durch die
Schriftstücke geführten Beweis des
Nebensächlichen zugleich als Beweis für die
Hauptsache, mit andern Worten, die bewiesene
Namensvetterschaft als bewiesene Blutsverwandtschaft. Was
übrigens als ein glänzender Coup gelten konnte.
Denn hätten wir noch "Fontanes" geheißen,
wodurch wir dem Großmeister, wenn auch nicht um
viel, so doch immerhin um ein "s" näher gekommen
wären, so wäre der den Rest der Sache mit
einschmuggelnde Nebenbeweis von vornherein
weggefallen1).
-
- Daß mein Vater solche
Phantasiebeziehungen pflegte, durfte nicht wundernehmen;
er war, wie schon oben kurz angedeutet, durch sein ganzes
Leben hin der Typus eines humoristischen Visionärs
und erging sich gern in mitunter grotesken Ausmalungen,
über die er dann auch wieder zu lachen verstand.
Aber daß meine ganz auf Verständigkeit und
beinah Nüchternheit gestellte Mutter ihm in allem,
was altfranzösische Verwandtschaft anging, nicht
bloß nacheiferte, sondern ihn darin womöglich
noch übertrumpfte, das durfte füglich
überraschen. Es war das einer jener halb
rätselhaften Widersprüche, wie sie sich in
jeder Menschennatur vorfinden. Indessen, worin immer auch
der Grund gesucht und gefunden werden möge, Tatsache
bleibt es, daß sich meine Mutter - die, wenn dies
Thema zur Verhandlung kam, selbst den sonst so gefeierten
"Onkel Mumme" fallenließ - für ganz nahe
verwandt mit dem Kardinal Fesch hielt, der bis zur
Wiederherstellung des bourbonischen Königtums
Erzbischof von Lyon war. Kardinal Fesch, geboren zu
Ajaccio und erst 1839 in Rom gestorben, war der
Stiefbruder der Lätitia Bonaparte, also nicht mehr
und nicht weniger als der Onkel Napoleons, durch dessen
Beistand er denn auch seine große Laufbahn machte.
Mit Hilfe welcher Überlieferung es meiner Mutter
gelungen war, diese vornehme Verwandtschaft
festzustellen, habe ich nie in Erfahrung gebracht; ich
weiß nur, daß es ein Schauspiel für
Götter war, wenn wir, selbst noch in späteren
Lebensjahren, beide Eltern, wie auf den meisten anderen
Gebieten, so auch auf diesem, sich mehr oder weniger
ernsthaft befehden sahen, gewöhnlich unter
voraufgehender Feststellung der Rangverhältnisse
zwischen einem Großmeister der Universität und
einem Kardinal-Erzbischof. Daß wir Kinder dem allem
sehr kritisch gegenüber standen, braucht nicht erst
versichert zu werden.
-
-
- Ich fahre nun in meiner eigentlichen
Erzählung fort.
-
- Am 27. März 1819 waren meine
Eltern in Ruppin eingetroffen; am 30. Dezember selbigen
Jahres wurde ich daselbst geboren. Es war für meine
Mutter auf Leben und Sterben, weshalb sie, wenn man ihr
vorwarf, sie bevorzuge mich, einfach antwortete: "Er ist
mir auch am schwersten geworden." In dieser bevorzugten
Stellung blieb ich lange, bis nach achtzehn Jahren ein
Spätling, meine jüngste Schwester, geboren
wurde, bei der ich Pate war und sie sogar über die
Taufe hielt. Das war eine große Ehre für mich,
ging aber mit meiner Dethronisierung durch eben diese
Schwester Hand in Hand. Als jüngstes Kind
rückte sie selbstverständlich sehr bald in die
Lieblingsstellung ein.
-
- Ostern 1819 hatte mein Vater die
Neu-Ruppiner Löwen-Apotheke in seinen Besitz
gebracht. Ostern 1826, nachdem noch drei von meinen vier
Geschwistern an eben dieser Stelle geboren waren, gab er
diesen Besitz wieder auf. Dieser frühe Wiederverkauf
des erst wenige Jahre zuvor unter den günstigsten
Bedingungen, man konnte sagen "für ein Butterbrot",
erstandenen Geschäfts wurde später, wenn das
Gespräch darauf kam, immer als verhängnisvoll
für meinen Vater und die ganze Familie bezeichnet.
Aber mit Unrecht. Das "Verhängnisvolle", das sich
viele Jahre danach - glücklicherweise auch da noch
in erträglicher Form, denn mein Papa war eigentlich
ein Glückskind - einstellte, lag nicht in dem
Einzelakte dieses Verkaufs, sondern in dem Charakter
meines Vaters, der immer mehr ausgab, als er einnahm, und
von dieser Gewohnheit, auch wenn er in Ruppin geblieben
wäre, nicht abgelassen haben würde. Das hat er
mir, als er alt und ich nicht mehr jung war, mit der ihm
eigenen Offenheit viele, viele Male zugestanden. "Ich war
noch ein halber Junge, als ich mich verheiratete", so
hieß es dann wohl, "und aus meiner zu frühen
Selbständigkeit erklärt sich alles." Ob er
darin recht hatte, mag dahingestellt sein. Er war
überhaupt eine ganz ungeschäftliche Natur, nahm
ihm vorschwebende Glücksfälle für
Tatsachen und überließ sich, ohne seiner auch
in besten Zeiten doch immer nur bescheidenen Mittel zu
gedenken, der Pflege "nobler Passionen". Er begann mit
Pferd und Wagen, ging aber bald zur Spielpassion
über und verspielte, während der sieben Jahre
von 1819 bis 26, ein kleines Vermögen. Der
Hauptgewinner war ein benachbarter Rittergutsbesitzer.
Als mir dreißig Jahre später der Sohn dieses
Rittergutsbesitzers eine kleine Summe Geld lieh, sagte
mein Vater: "Das stecke nur ruhig ein; sein Vater hat mir
ganz allmählich zehntausend Taler in Whist en trois
abgenommen." Vielleicht war diese Zahl zu hoch gegriffen,
aber wie's damit auch stehen mochte, die Summe war
jedenfalls bedeutend genug, um sein Credit und Debet
außer Balance zu bringen, und ihn, neben andrem,
auch zu einem sehr säumigen Zinszahler zu machen.
Dies wäre nun, unter gewöhnlichen
Verhältnissen, wo man etwa zu
Hypotheken-Einschreibungen und ähnlichem hätte
greifen können, eine Zeitlang ganz ertragbar
gewesen; zum Unglück aber traf es sich so, daß
meines Vaters Hauptgläubiger sein eigener Vater war,
der nun Gelegenheit nahm, seinem nur zu berechtigten
Unmute, sei's in Briefen, sei's bei persönlichen
Zusammenkünften, Ausdruck zu geben. Das
Bedrückliche der Situation zu steigern, sahen sich
diese Vorwürfe durch meine ganz auf
schwiegerväterlicher Seite stehende Mutter
unterstützt, bzw. verdoppelt. Kurzum, je weiter die
Sache gedieh, je mehr geriet mein Vater zwischen zwei
Feuer, und lediglich um aus dieser sein Selbstgefühl
beständig verletzenden Lage herauszukommen,
entschloß er sich zum Verkauf seines Besitztums,
dessen besondere Ertragsfähigkeit ihm, trotzdem er
das Gegenteil von einem Geschäftsmann war, so gut
wie jedem anderen einleuchtete. Seine ganze Rechnung
dabei stellte sich überhaupt - wenigstens
zunächst und von seinem Standpunkte aus angesehen -
als durchaus richtig und vorteilhaft heraus. Er erhielt
nämlich beim Verkauf der Apotheke das Doppelte von
dem, was er seinerzeit gezahlt hatte, und sah sich
dadurch mit einemmal in der Lage, seine Gläubiger,
die zugleich seine Ankläger waren, zufriedenstellen
zu können. Das geschah denn auch. Er zahlte seinem
Vater die vorgeschossene Summe zurück, fragte seine
Frau, halb scherzhaft, halb spöttisch, ob sie ihr
Vermögen vielleicht "sicherer und vorteilhafter"
anlegen wolle, und erreichte dadurch das, wonach er sich
sieben Jahre lang gesehnt hatte: Freiheit und
Selbständigkeit. Aller lästigen Bevormundung
überhoben, war er plötzlich so weit, "sich
nichts mehr sagen lassen zu müssen". Und das war
recht eigentlich der Punkt, um den sich's sein Lebelang
für ihn handelte. Danach dürstete er von Jugend
an bis in sein Alter; weil er's aber nicht gut
einzurichten verstand, so ist er zu dieser ersehnten
Freiheit und Selbständigkeit immer nur tag- und
wochenweise gekommen. Er war, um einen seiner
Lieblingsausdrücke zu gebrauchen, beständig in
der "Bredouille", sah sich finanziell immer beunruhigt
und gedachte deshalb der nun anbrechenden, zwischen
Ostern 1826 und Johanni 1827 liegenden kurzen Epoche bis
zu seinem Lebensausgange mit besonderer Vorliebe. Denn es
war die einzige Zeit für ihn gewesen, wo die
"Bredouille" geruht hatte.
-
- Über dieses
fünfvierteljährige glückliche Interim habe
ich zunächst zu berichten.
-
-
-
- 1.Durch einen
Nebensächlichkeitsbeweis die Hauptsache beweisen zu
wollen, dafür mag aus meinen Erlebnissen hier noch
folgendes als glänzendes Beispiel dienen. Ein Freund
von mir besaß eine etwa anderthalb Fuß hohe
Terrakotta-Statuette, hübsche Arbeit, die einige
für das von Michelangelo persönlich
herrührende Modell zum "Moses" hielten, während
dies von andern bestritten wurde. Nun befand sich an
einer Stelle der Figur ein scharf in die Terrakottamasse
abgedruckter Finger, derart scharf, daß die kleinen
Rinnen und Rillen der Haut ganz deutlich erkennbar waren.
Als es nun die Echtheit zu beweisen galt, sagte mein
Freund: "Es kann kein Zweifel sein; Sie sehen hier ganz
deutlich den Finger." Das war auch richtig; man sah den
Finger, man sah nur nicht, daß es der
Michelangelosche Finger war. Trotzdem hab' ich es
zunächst an mir selbst, dann aber auch an andern
erlebt, daß dieser Beweis momentan für voll
angesehen wurde. Ja, der Besitzer selbst war, als er das
erstemal auf den Fingerabdruck hinwies, durchaus bona
fide dabei verfahren und setzte erst später diese
Art von Beweisführung als Spiel und Jokosum
fort.
-
- Wir verlebten diese Zwischenzeit in
einer in Nähe des Rheinsberger Tores gelegenen
Mietswohnung, einer geräumigen aus einer ganzen
Flucht von Zimmern bestehenden Beletage. Beide Eltern
waren denn auch, was häusliche Bequemlichkeit
angeht, mit dem Tausche leidlich zufrieden, ebenso die
Geschwister, die für ihre Spiele Platz die
Hülle und Fülle hatten. Nur ich konnte mich
nicht zufrieden fühlen und habe das Mietshaus bis
diesen Tag in schlechter Erinnerung. Es war nämlich
ein Schlächterhaus, was nie mein Geschmack war.
Durch den langen dunklen Hof hin zog sich eine Rinne,
drin immer Blut stand, während am Ende des einen
Seitenflügels, an einer schräg gestellten
Leiter, ein in der Nacht vorher geschlachtetes Rind hing.
Glücklicherweise war ich nie Zeuge der
entsprechenden Vorgänge, mit Ausnahme der
Schweineschlachtung. Da ließ sich's mitunter nicht
vermeiden. Ein Tag ist mir noch deutlich im
Gedächtnis. Ich stand auf dem Hausflur und sah durch
die offenstehende Hintertür auf den Hof hinaus, wo
gerade verschiedene Personen, quer ausgestreckt,
über dem schreienden Tier lagen. Ich war vor
Entsetzen wie gebannt, und als die Lähmung endlich
gewichen war, machte ich, daß ich fortkam und lief
die Straße hinunter durch's Tor auf den "Weinberg"
zu, ein bevorzugtes Vergnügungslokal der Ruppiner.
Ehe ich aber daselbst ankam, nahm ich, um zu
verschnaufen, eine Rast auf einem niedrigen
Erdhügel. Den ganzen Vormittag war ich fort. Bei
Tische hieß es dann: "Um Himmels willen, Junge, wo
warst du denn so lange?" Ich erzählte nun ehrlich,
daß ich vor dem Anblick unten auf dem Hofe die
Flucht ergriffen und auf halbem Wege nach dem Weinberge
hin auf einem Erdhügel gerastet und meinen
Rücken an einen zerbröckelten Pfeiler gelehnt
hätte. "Da hast du ja ganz gemütlich auf dem
Galgenberge gesessen", lachte mein Vater. Mir aber war,
als lege sich mir schon der Strick um den Hals, und ich
bat, von Tisch aufstehen zu dürfen.
-
- Um eben diese Zeit kam ich in die
Klippschule, was nur in der Ordnung war, denn ich ging in
mein siebentes Jahr. Der Lehrer, der Gerber hieß,
machte von seinem Namen weiter keinen Gebrauch und war
überhaupt sehr gut. Ich zeigte mich auch gelehrig
und machte Fortschritte; meine Mutter hielt es aber doch
für ihre Pflicht, hier und da, namentlich im Lesen,
nachzuhelfen, und so stand ich jeden Nachmittag an ihrem
kleinen Nähtisch und las ihr aus dem
"Brandenburgischen Kinderfreund", einem guten Buche mit
nur leider furchtbaren Bildern, allerlei kleine
Geschichtchen vor. Ich machte das wahrscheinlich ganz
erträglich, denn gut lesen und schreiben
können, beiläufig etwas im Leben sehr
Wichtiges, ist eine Art Erbgut in der Familie; meine
Mutter war aber nicht leicht zufriedenzustellen und ging
außerdem davon aus, daß loben und anerkennen
den Charakter verdürbe, was ich übrigens auch
heute noch nicht für richtig halte. Bei dem
kleinsten Fehler zeigte sie die "rasche Hand", über
die sie überhaupt verfügte. Von Laune war dabei
keine Rede; sie verfuhr vielmehr lediglich nach dem
Prinzip: "Nur nicht weichlich." Ein Schlag zuviel konnte
nie schaden, und ergab sich, daß ich ihn eigentlich
nicht verdient hatte, so galt er als Ausgleich für
all die Dummheiten, die nur zufällig nicht zur
Entdeckung gekommen waren. "Nur nicht weichlich." Dies
ist gewiß ein sehr guter Grundsatz, und ich mag ihn
nicht tadeln, trotzdem er mir nichts geholfen und zu
meiner Abhärtung nichts beigetragen hat; aber wie
man sich auch dazu stellen möge, meine Mutter ging
im Hartanfassen dann und wann etwas zu weit. Ich hatte
lange blonde Locken, weniger zu meiner eigenen, als zu
meiner Mutter Freude; denn um diese Locken in ihrer
angeblichen Schönheit zu erhalten, wurde ich den
andauerndsten und gelegentlich schmerzhaftesten
Kämmprozeduren unterworfen, dem Kämmen mit dem
sogenannten engen Kamm. Wäre ich damals aufgefordert
worden, mittelalterliche Marterwerkzeuge zu nennen, so
hätte der "enge Kamm" mit obenangestanden. Eh nicht
Blut kam, eh, war die Sache nicht vorbei; anderen Tages
wurde die kaum geheilte Stelle wieder mit
verdächtigem Auge angesehen, und so folgte der einen
Quälerei die andere. Freilich, wenn ich, was
möglich, es dieser Prozedur verdanken sollte,
daß ich immer noch einen bescheidenen Bestand von
Haar habe, so habe ich nicht umsonst gelitten und bitte
reumütig ab. Neben dieser sorglichen Behandlung der
Kopfhaut stand eine gleich fürsorgliche Behandlung
des Teint. Aber auch diese Fürsorge lief auf
Anwendung zu scharf einschneidender Mittel hinaus. Wenn
bei Ostwind oder starker Sonnenhitze die Haut aufsprang,
hatte meine Mutter das unfehlbare Heilmittel der
Zitronenscheibe zur Hand. Es half auch immer. Aber Cold
Cream oder ähnliches wäre mir doch lieber
gewesen und hätt' es wohl auch getan. Übrigens
verfuhr die Mama mit gleicher Unerbittlichkeit gegen sich
selbst, und wer mutig in die Schlacht vorangeht, darf
auch Nachfolge fordern.
-
- Ich wurde, wie schon erwähnt,
während der Zeit, wo wir die Mietswohnung
innehatten, sieben Jahre alt, gerade alt genug, um
allerlei zu behalten, weiß aber doch herzlich wenig
aus jener Zeit. Nur zweier Ereignisse erinnere ich mich,
wobei wahrscheinlich eine starke Farbenwirkung auf mein
Auge mein Gedächtnis unterstützte. Das eine
dieser Ereignisse war ein großes Feuer, bei dem die
vor dem Rheinsberger Tore gelegenen Scheunen abbrannten.
Es war aber, wie ich gleich vorweg zu bemerken habe,
nicht der Scheunenbrand selbst, der sich mir
einprägte, sondern eine sich unmittelbar vor meinen
Augen abspielende Szene, zu der das Feuer, dessen Schein
ich nicht mal sah, nur die zufällige Veranlassung
gab. Meine Eltern befanden sich an jenem Tage auf einem
kleinen Diner, ganz am entgegengesetzten Ende der Stadt.
Als die Tischgesellschaft von der Nachricht, daß
alle Scheunen in Feuer stünden, überrascht
wurde, stand es für meine Mutter, die eine sehr
nervöse Frau war, sofort fest, daß ihre Kinder
mit verbrennen müßten oder mindestens in
schwerer Lebensgefahr schwebten, und von dieser
Vorstellung ganz und gar beherrscht, stürzte sie von
der Tafel fort, die lange Friedrich-Wilhelm-Straße
hinunter und trat ohne Hut und Mantel und das Haar von
dem stürmisch eiligen Gange halb aufgelöst, in
das große Frontzimmer unserer Wohnung, darin wir,
aus den Betten geholt und mit Decken zugedeckt, schon auf
Kissen und Fußbänken umhersaßen. Unserer
ansichtig werdend, schrie sie vor Glück und Freude
laut auf und brach dann ohnmächtig zusammen. Als im
nächsten Augenblicke verschiedene Personen, darunter
auch die Wirtsleute, mit Lichtern in der Hand herzukamen,
empfing das Gesamtbild, das das Zimmer darbot, eine
grelle Beleuchtung, am meisten das dunkelrote Brokatkleid
meiner Mutter und das schwarze Haar, das darüber
fiel, und dies Rot und Schwarz und die flackernden
Lichter drum herum, das alles blieb mir bis diese
Stunde.
-
- Das andre Bild, oder sag' ich lieber
die zweite kleine Geschichte, die mir noch im
Gedächtnis lebt, entbehrte durchaus des
Dramatischen, aber die Farbe kam mit auch dabei zu Hilfe.
Nur daß es Gelb war statt Rot. Leider muß ich
bei dieser zweiten kleinen Geschichte ziemlich weit
ausholen. Mein Vater machte während des
Interimsjahres öfters Reisen nach Berlin. Einmal, es
mochte Monat Oktober sein und das Abendrot schimmerte
schon zwischen den Bäumen des Stadtwalls, stand ich
unten in unsrem Torweg und sah meinem Vater zu, der sich
eben die Fahrhandschuhe mit einem gewissen Aplomb anzog,
um dann mit einem Ruck auf den Vordersitz seines kleinen
Kaleschwagens hinaufzusteigen. Auch meine Mutter war da.
"Der Junge könnte eigentlich mitfahren", sagte mein
Vater. Ich horchte hoch auf, beglückt in meiner
kleinen Seele, die schon damals nach allem, was einen
etwas aparten und das nächtlich Schauerliche
streifenden Charakter hatte, begierig verlangte. Meine
Mutter stimmte meines Vaters Vorschlage sofort zu, was
ich mir nur so deuten kann, daß sie von ihrem
Lieblingskinde mit den schönen blonden Locken einen
guten Eindruck auf den Großvater, zu dem die Reise
ging, erwartete. "Gut", sagte sie, "nimm den Jungen mit.
Ich will ihm aber erst einen warmen Rock
überziehen." - "Nicht nötig; ich stecke ihn in
den Fußsack." Und wirklich, ich wurde
hinaufgereicht und wie ich da ging und stand in den
Fußsack gesteckt, der vorn auf dem Wagen lag, alles
offen, nicht einmal eine Ledertrommel darüber
ausgespannt. Kam ein Stein, oder gab's einen Stoß,
so konnte ich mit Bequemlichkeit herausfliegen. Aber
diese Vorstellung störte meine Freude keinen
Augenblick. In raschem Trabe ging es über Alt-Ruppin
auf Cremmen zu, und lange bevor wir dieses, das
ungefähr halber Weg war, erreicht hatten, zogen die
Sterne herauf und wurden immer heller und blitzender.
Entzückt sah ich in die Pracht, und kein Schlaf kam
in meine Augen. Ich bin nie wieder so gefahren; mir war,
als reisten wir in den Himmel. Gegen acht Uhr früh
hielt unser Gefährt vor dem Hause meines
Großvaters, der es, was hier noch eingeschaltet
werden mag, mit Hilfe dreier, in guten Abständen
geheirateter Frauen erst vom Zeichenlehrer zum
Kabinettssekretär und ganz zuletzt, was noch
wichtiger, sogar zum gutsituierten Berliner Hausbesitzer
gebracht hatte, freilich nur in der Kleinen Hamburger
Straße. Seinen Söhnen und Enkeln ist die sich
hierin aussprechende Lebekunst
verlorengegangen.
-
- Wir stiegen nun treppauf und traten
ein. Was uns empfing, war zunächst ein anheimelndes
Idyll. Pierre BarthÈlemy und seine dritte Frau -
übrigens eine vorzügliche Dame, die ich
später noch sehr verehren lernte - saßen
gerade beim Frühstück. Alles war höchst
mollig. Ein Meißener Service stand auf dem Tisch,
und zwischen den Tassen und Kannen bemerkte ich einen
ebenfalls blau und weiß gemusterten Korb von
zierlich durchbrochener Arbeit, mit Berliner Milchbroten
darin. Die waren damals natürlich anders als jetzt,
viel größer und von kreisrunder Form, dabei
hell gebacken und doch knusprig. Über dem Sofa hing
ein großes, ganz vor kurzem erst von der Hand
Professor Wachs' gemaltes ÷lbild des
Großvaters. Es war sehr gut und lebensvoll, aber
ich hätte den ausdrucksvollen Kopf und vielleicht
die ganze Besuchsszene vergessen, wenn nicht die schwarz
und schwefelgelb gestreifte Weste gewesen wäre, die
Pierre BarthÈlemy, wie ich später erfuhr,
gewohnheitsmäßig trug und die auch,
dementsprechend, einen wesentlichen Teil des ihm zu
Häupten hängenden Bildes ausmachte. Wir nahmen
selbstverständlich an dem Frühstück teil,
und die Großeltern, fein geschulte Leute,
ließen nicht allzuviel davon merken, daß
ihnen der ganze Besuch mit seinen voraussichtlich
geschäftlichen Auseinandersetzungen eigentlich eine
Störung war. Aber freilich, von Zärtlichkeit
gegen mich war den ganzen Tag über keine Rede, so
daß ich herzlich froh war, als es am Abend wieder
nach Hause ging. Erst viel später ist mir
klargeworden, daß die Nüchternheit, der ich
begegnete, nicht mir armem Kinde, sondern, wie schon
angedeutet, meinem Vater galt. Ich mußte nur mit
leiden. Der äußersten Solidität des
Großvaters war der sichere, lebemännische Ton
seines Sohnes, der sich durch seinen glücklichen
Verkaufscoup mit einem Male selbständig und als Mann
von Vermögen fühlte, derart unbequem und
bedrücklich, daß meine blonden Locken, auf
deren Eindruck meine Mutter so sicher gerechnet hatte,
ganz und gar versagten.
-
- Ich bemerkte schon, daß solche
Ausflüge nach Berlin damals öfters stattfanden,
aber noch häufiger waren Reisen in die Provinz, weil
es meinem Vater oblag, sich nach einem neuen
Apothekenbesitz umzutun. Wär' es nach ihm gegangen,
so hätte er diesen Zustand der Dinge wohl nie
geändert und das Interim in Permanenz erklärt;
denn er hatte, während ihm die Spielpassion
eigentlich nur durch den Wunsch, die Zeit hinzubringen,
aufgedrungen war, eine ganz aufrichtige Passion für
Pferd und Wagen, und sein Lebelang in der Welt
umherzukutschieren, immer auf der Suche nach einer
Apotheke, ohne diese je finden zu können, wäre
wohl eigentlich sein Ideal gewesen. Er sah aber ein,
daß das unmöglich sei - wenige Reisejahre
würden sein Vermögen aufgezehrt haben - und so
war er denn nur beflissen, sich, weil's ihm so
paßte, vor Ankaufsübereilungen zu bewahren. Je
kritischer er verfuhr, je länger konnte er seine
Fahrten fortsetzen und seinem geliebten Schimmel, einem
übrigens reizenden Tiere, jeden Abend ein neues
Quartier bereiten. Ich sage seinem Schimmel, denn ein
gutes Quartier für diesen lag ihm mehr am Herzen als
sein eignes. Dreiviertel Jahre, bis Weihnachten 26, ist
er denn auch vielfach, um nicht zu sagen meistens,
unterwegs gewesen, und zwar auf einem ziemlich
umfangreichen Gebiete, das außer der Provinz
Brandenburg auch noch Sachsen, Thüringen und zuletzt
Pommern umschloß. Diese Reisezeit war später
ein bevorzugter Unterhaltungsstoff beider Eltern, auch
meiner Mutter, die sich sonst ziemlich ablehnend gegen
die Lieblingsthemata meines Vaters verhielt. Daß
sie hier einen Ausnahmefall eintreten ließ, hatte
zum Teil seinen Grund darin, daß mein Vater in
dieser seiner Reisezeit viele an seine junge Frau
gerichtete "Liebesbriefe" geschrieben hatte, die nun als
solche zu persiflieren zeitlebens ein Hauptvergnügen
meiner Mutter war. "Ihr müßt nämlich
wissen, Kinder", so hieß es dann wohl, "ich habe
noch eures Vaters Liebesbriefe; so was Hübsches hebt
man sich eben auf, und einen kann ich sogar auswendig,
wenigstens den Anfang. Dieser eine kam aus Eisleben, und
darin schrieb er mir: "Ich bin hier heute nachmittag
angekommen und habe ein recht gutes Quartier gefunden.
Auch für den Schimmel, der sich vorn etwas
gedrückt hat. Aber davon will ich dir heute nicht
schreiben, sondern nur davon, daß dies der Ort ist,
wo Martin Luther am 10. November 1483 geboren wurde, neun
Jahre vor der Entdeckung von Amerika"... Da habt ihr
euren Vater als Liebhaber. Ihr seht, er hätte einen
Briefsteller herausgeben können."
-
- Dies alles war seitens meiner Mutter
nicht bloß ziemlich ernsthaft, sondern leider auch
bitter gemeint; sie litt darunter, daß mein Vater,
so sehr er sie liebte, von Zärtlichkeitsallüren
auch nie eine Spur gehabt hatte.
-
- Das Reisen dauerte dreiviertel Jahr
und ging zuletzt in östlicher Richtung auf die
Odermündung zu. Kurz vor Weihnachten fuhr er mit der
Fahrpost, weil ihm sein Schimmel zu schade für die
Winterstrapazen sein mochte, nach Swinemünde, das er
bei 26 Grad Kälte erreichte. Der Kognak in seiner
Flasche war zu einem Eisklumpen gefroren. Desto
wärmer empfing ihn die verwitwete Frau Geisler, die,
weil ihr das Jahr vorher der Mann gestorben war, ihre
Apotheke so schnell wie möglich zu verkaufen
wünschte. Dazu kam es denn auch. In dem, diesen
Geschäftsabschluß anmeldenden Briefe
hieß es: "Wir haben nun eine neue Heimat, die
Provinz Pommern, Pommern, von dem man vielfach falsche
Vorstellungen hat; denn es ist eigentlich eine
Prachtprovinz und viel reicher als die Mark. Und wo die
Leute reich sind, lebt es sich auch am besten.
Swinemünde selbst ist zwar ungepflastert, aber Sand
ist besser als schlechtes Pflaster, wo die Pferde ewig
was am Spann haben. Freilich ist noch ein halbes Jahr bis
zur Übergabe, was ich beklage. Man muß doch
wieder etwas tun, wieder eine Beschäftigung
haben."
-
- Drei Tage nach Eingang dieses Briefes
war er selber wieder da. Wir wurden verschlafen aus den
Betten geholt und mußten uns freuen, daß es
nach Swinemünde gehe.
-
- Mir klang das Wort bloß
befremdlich.
-
-
- zurück
- weiter
|