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00.
Vorwort
01.
Meine Eltern
02.
Gascogne und Cevennen - Französische Vettern - Unsere
Ruppiner Tage
03.
Unsere Übersiedelung nach Swinemünde - Ankunft
daselbst
04.
Unser Haus, wie wir's vorfanden
05.
Unser Haus, wie's wurde
06.
Die Stadt; ihre Bewohner und ihre
Honoratioren
07.
Die Schönebergs und die Scherenbergs
08.
Die Krauses
09.
Wie wir in unserem Hause lebten - Sommer- und Herbsttage -
Schlacht- und Backfest
10.
Wie wir in unserem Hause lebten (Fortsetzung) - "Große
Gesellschaft"
11.
Was wir in Haus und Stadt
erlebten
12.
Was wir in der Welt erlebten
13.
Wie wir in die Schule gingen und lernten
14.
Wie wir erzogen wurden - Wie wir spielten in Haus und
Hof
15.
Wie wir draußen spielten, an Strom und
Strand
16.
Vierzig Jahre später
17.
Allerlei Gewölk
18.
Das letzte Halbjahr
|
Theodor Fontane
(1819 - 1898)
Meine Kinderjahre
|
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-
- Autobiographischer
Roman
- Textauszüge von Theodor
Fontane
mit Fotos von Martin Schlu
-
- Sechstes Kapitel.
Die Stadt; ihre Bewohner und ihre
Honoratioren
-
- Swinemünde war, als wir im
Sommer 1827 dort einzogen, ein unschönes Nest, aber
zugleich auch wieder ein Ort von ganz besonderem Reiz,
dabei aller Unbelebtheit der Mehrzahl seiner
Straßen zum Trotz von jener eigentümlichen
Lebendigkeit, die Handel und Schiffahrt geben. Es kam, um
so oder so, um günstig oder ungünstig zu
urteilen, ganz darauf an, an welche Stelle der Stadt man
sich stellte. Wählte man als Beobachtungsposten den
schon mehrerwähnten Kirchenplatz, zu dessen
einschließenden Häusern auch unsere Apotheke
gehörte, so ließ sich, obschon hier die
Hauptstraße vorüberführte, wenig Gutes
sagen; gab man aber die Innenstadt auf und begab sich an
den "Strom", wie die Swine regelmäßig genannt
wurde, so verkehrte sich die bis dahin ungünstige
Meinung in ihr Gegenteil. Hier am Ströme
nämlich lief, auf fast eine Viertelmeile Wegs, das
"Bollwerk" hin, eine Uferstraße, wie sie nicht
poetischer gedacht werden konnte. Gerade daß hier
alles nur ein Mittelmaß hielt und nirgends an das
Große der wirklich großen Handelsemporien
erinnerte, gerade dies Mittelmaß der Dinge lieh
allem etwas überaus Anheimelndes, gegen das sich nur
ein Griesgram oder eine für die Zauber von Form und
Farbe ganz unempfindliche Natur verschließen
konnte. Freilich war auch diese Bollwerk-Straße
nicht an jeder Stelle dieselbe, ließ sogar,
namentlich flußaufwärts, manches zu
wünschen übrig, von dem Punkt an jedoch, wo
eine an unserer Hausecke beginnende Querstraße
rechtwinkelig einmündete, konnte man sich, dem Laufe
des Flusses folgend, Schritt für Schritt an den sich
darbietenden Bildern erquicken. Hier liefen nämlich,
vom abgeschrägten Ufer aus, mal kleinere, mal
größere Bretterflöße bis in den
Strom hinein, schwimmende Bänke, darauf man, von
frühmorgens an, die Mädchen Wäsche
spülend bei der Arbeit sah, immer in heiterer
Unterhaltung untereinander oder mit den Schiffsleuten,
die behaglich über die Bollwerkbrüstung
gelehnt, ihnen zusahen. Diese mit ihrer Staffage
höchst malerisch wirkenden Flöße
hießen "Klappen" und dienten, besonders den Fremden
und Badegästen zu besserer Ortsbezeichnung und
Orientierung. Er wohnt an "Klempins Klapp" oder
gegenüber von "Jahnkes Klapp". Zwischen diesen
verschiedenen Flößen beziehungsweise
Waschbänken zog sich immer ein bestimmt abgegrenztes
Stück Bollwerkwandung, und hier lag die Mehrzahl der
Schiffe, winters oft in drei, vier Reihen hintereinander.
Die Bemannung fehlte um diese Zeit, und nur ein aus dem
Küchenrohr aufsteigender Rauch oder noch
häufiger ein auf einem kleinen Berge von Segeltuch,
wenn nicht auf seiner Hütte sitzender und die
Vorübergehenden anblaffender Spitz gab Zeugnis
davon, daß die Schiffsräume nicht ganz ohne
Bewachung seien. War dann im Frühling die Swine
wieder eisfrei, so begann sich alsbald alles wie mit
Zauberschlag zu beleben, und das Treiben am Strom hin
zeigte, daß die Zeit zur Ausfahrt wieder nahe sei.
Dann wurde der Schiffskörper auf die Seite gelegt,
um ihn auf etwaige Schäden hin besser untersuchen zu
können, und waren diese gefunden, so sah man, am
anderen Tage schon, an der betreffenden Bollwerkstelle
kleine, mit Holzspänen und zerfaserten alten
Tauenden unterhaltene Feuer, in deren Mitte das Pech in
eisernen Grapen brodelte. Ganze Haufen von Werg daneben.
Und nun begann der Prozeß des Kalfaterns. Kam dann
Mittagzeit heran, so wurde noch eine Pfanne mit
Kartoffeln und Speckstücken in die Glut geschoben,
und viele, viele Male, wenn ich um diese Stunde hier
meines Weges zog, sog ich begierig den appetitlichen
Qualm ein, an dem mich der Pechbeisatz nicht im mindesten
störte. Noch jetzt nähre ich mich, oder doch
wenigstens meine Nerven, mit Vorliebe von dem
Erdpechqualm; der mitunter durch unsere neu zu
asphaltierenden Berliner Straßen zieht.
-
- Um die Frühjahrs- und
Sommerszeit setzte sich dann auch der mitten im Strome
liegende englische Dampfbagger wieder in Tätigkeit,
dem es oblag, das Fahrwasser zu verbessern, und dessen
aus der Tiefe heraufgeholte Erd- und Schlickmassen an
einer flachen Stelle des Stromes ausgeschüttet und
aufgetürmt wurden, um hier eine künstliche
kleine Insel entstehen zu lassen. Ein paar Jahre
später stand sie schon hoch in Rohr und Schilf und
trägt jetzt wahrscheinlich Häuser und
Etablissements der Marinestation, allen denen, die das
erste Drittel des Jahrhunderts noch gesehen, den Wechsel
der Zeiten und das Wachsen unserer Machtstellung
bezeugend.
-
- Halbe Stunden lang sah ich, wenn ich
konnte, der Arbeit des englischen Baggers zu, dessen
Ingenieur, ein alter Schotte, namens Macdonald, mein
besonderer Gönner war. Daß ich, ein
Menschenalter später, seinen schottischen Clan
bereisen und auf der Insel Icolmskill, unter Führung
eines Macdonald, an die Stelle treten würde, wo nach
alter Annahme König Macbeth begraben liegt - wer mir
das damals gesagt hätte!
-
- Und wie dem Baggern, so sah ich auch
dem Anlegen der Schiffe zu, wenn diese von weiten Fahrten
heimkamen, einzelne (wie die "Königin Luise", ein
Seehandlungsschiff) von ihren Reisen um die Erde, was
damals noch etwas bedeutete. Mein Hauptschiff aber war
der "Mentor", von dem es hieß, daß er einen
Kampf mit chinesischen Seeräubern siegreich
bestanden habe. Die Seeräuber führten ein
langrohriges Metallgeschütz mit sich, das besser
schoß als die rohen, gußeisernen Kanonen, von
denen der "Mentor" etliche an Bord hatte. Dazu war das
Piratenboot viel schneller, und so kam denn unser
Swinemünder Kauffahrer alsbald in eine schlimme
Lage. Der Kapitän aber wußte sich zu helfen.
Er ließ alle seine großen Böller an die
eine Seite des Schiffes schaffen und mäßigte
jetzt die Fahrt absichtlich, um den Verfolgern das
Näherkommen leichter zu machen. Und nun war ihr Boot
auch wirklich heran, und die Piraten trafen schon
Anstalt, von der einen Seite her das Schiff zu ersteigen.
Da gab der Mentor-Kapitän das verabredete Zeichen,
und mit aller Kraft und Schnelligkeit rollten jetzt die
Böller von der einen Schiffsseite nach der andern
hinüber und schlugen, durch die dünne Wandung
hindurch, auf das unten haltende, schon siegessichere
Boot, das nun, von der Wucht der schweren eisernen
Kanonen in Stücke gebrochen, mit Mann und Maus
zugrunde ging1).
-
- Solche Geschichten waren immer in der
Luft und knüpften nicht bloß an die Schiffe,
sondern gelegentlich auch an die Häuser an, die den
Schiffen gegenüber an der anderen Seite des
Bollwerks lagen. Weiter flußabwärts aber
verloren sowohl diese Häuser wie die Geschichten
ihren Reiz, bis, erst ganz am Ende der Stadt wieder, ein
etwas zurückgelegenes, großes Gebäude das
Interesse noch einmal in Anspruch nahm. Dies war das erst
seit kurzem errichtete "Gesellschaftshaus", das nicht
bloß den Vereinigungsplatz für die
Badegäste, sondern, solange die Saison anhielt, auch
für die städtischen Honoratioren bildete, von
denen vielleicht keiner öfter hier zur Stelle war
als mein Vater. Dieser häufige Besuch galt nun
freilich nicht eigentlich dem "Gesellschaftshause"
selbst, am wenigsten den darin zur Aufführung
kommenden Konzerten und Theaterstücken, der
gelegentlich stattfindenden Bälle ganz zu
geschweigen - nein, was ihn anzog und mitunter schon zur
Frühschoppenzeit hinausführte, das war ein
dicht neben dem Gesellschaftshause stehender Pavillon,
darin ein mit untadeligem blauem Frack und
Goldknöpfen angetaner alter Major von historischem
Namen unter affabelsten Manieren eine kleine Bank
auflegte. Diese war nur allzu oft das Wanderziel meines
Vaters, der, wenn er ein Erkleckliches dort verloren und
den pot des Bankhalters entsprechend bereichert hatte,
statt verstimmt darüber zu sein, nur einfach den
Schluß zog, daß das Bankhalten ein einen
sicheren Gewinn abwerfendes Geschäft und der alte
Major mit dem hohen weißen Halstuch und der
Brillantnadel ein überaus beneidens- und vor allem
auch sehr nachahmenswerter Mann sei. Bei solcher Existenz
habe man was vom Leben. Dergleichen sprach er dann auch
aus, wenn er nach Hause kam und sich verspätet zu
Tische setzte. Einmal geschah es in Gegenwart einer
Schwester meiner Mutter, einer eben erst verheirateten
jungen Frau, die während der Badezeit auf Besuch bei
uns weilte.
-
- "Das wirst du doch nicht tun, Louis",
antwortete sie auf seine
Auseinandersetzungen.
-
- "Warum nicht?"
-
- "Weil es keine Ehre hat."
-
- "Hm, Ehre", warf er hin und trommelte
mit den Fingern auf dem Tisch.
-
- Aber er hatte doch nicht den Mut, es
zu bestreiten, und sah nur weg und stand auf.
-
-
-
- Die Stadt war sehr häßlich
und sehr hübsch, und ein gleicher Gegensatz sprach
sich auch, wenigstens auf die moralischen Qualitäten
hin angesehen, in ihrer Bevölkerung aus. Es gab
hier, wie immer in Seestädten, eine breite, tagaus,
tagein unter Rum und Arrak stehende, zugleich den
Grundstock der Gesamteinwohnerschaft ausmachende
Volksschicht, daneben aber, ebenfalls nach allgemein
seestädtischem Vorbild, eine geistig durchaus
höher potenzierte Gesellschaft, die jedenfalls weit
über das hinauswuchs, was man damals in den von
engsten Philisteranschauungen beherrschten kleinen
Städten der Binnenprovinzen, namentlich auch unserer
Mark, anzutreffen pflegte. Daß die Bewohnerschaft
allem Spießbürgertum so durchaus fremd war,
hatte sicher in manchem seinen Grund, vorwiegend aber
wohl darin, daß die gesamte Bevölkerung von
ausgesprochen internationalem Charakter war. In den
umliegenden großen und reichen Dörfern wohnten
vielleicht noch wendisch-pommersche Autochthonen aus den
Tagen von Julin und Vineta her; in Swinemünde selbst
aber, zumal in der Oberschicht der Bewohnerschaft, war
alles derart durcheinandergewürfelt, daß man
den Repräsentanten aller nordeuropäischen
Völker daselbst begegnete, Schweden, Dänen,
Holländern, Schotten, die hier früher oder
später hängengeblieben waren, die meisten wohl
zu Beginn des Jahrhunderts, zu welcher Zeit die bis dahin
sehr unbedeutende Stadt überhaupt erst einen
Aufschwung genommen hatte.
-
- Die Zahl der Einwohner war, als wir
daselbst eintrafen, gegen viertausend, wovon aber kaum
der zehnte Teil städtisch-bürgerlich und ein
noch viel kleinerer Bruchteil gesellschaftlich in
Betracht kam. Was man mit mehr oder weniger Fug und Recht
"Gesellschaft" nennen konnte, bestand aus nicht mehr als
zwanzig Familien. Diese zwanzig bildeten (auch ein paar
von Adel aus der Umgegend kamen des weiteren hinzu) eine
sich im Olthoffschen Saale versammelnde "Ressource", zu
der noch, wie zur Gesellschaft überhaupt, der Anhang
oder die Gefolgschaft einiger der reichsten und
angesehensten Häuser gehörte. Diese halb aus
armen Verwandten und halb aus heruntergekommenen
Kaufleuten bestehende Klientel wurde nicht immer, aber
doch jedesmal zu den größeren, auf starke
Wirkungen berechneten Gastereien mit herangezogen, um
hier während der zweiten Tafelhälfte - die
erste tat sich meist durch bemerkenswert gute Haltung
hervor - das über sich ergehen zu lassen, was die
Engländer practical jokes nennen. Trat dieser
Zeitpunkt ein, so lösten sich alle Bande frommer
Scheu, und man schritt nun zu den gewagtesten
Experimenten, über die zu berichten die Feder sich
sträubt. Einmal kam es vor, daß einem dieser
Unglücklichen, unglücklich weil er arm und
abhängig, ein Backzahn mit der ersten besten Zange
ausgezogen wurde, woraus man aber nicht schließen
wolle, daß diejenigen, die dies vornahmen,
überhaupt rohe Menschen gewesen wären. Nur der
zu jener Zeit, zumal wenn die Weinlaune hinzukam, sich
gern geltend machende gesellschaftliche Übermut
glaubte sich dergleichen erlauben zu dürfen. In
reichen und vornehmen Häusern auf dem Lande ging man
gelegentlich noch um einen guten Schritt weiter,
worüber ich anderen Orts ausführlicher
berichtet habe.
-
- Zwanzig Familien also bildeten die
Honoratiorenschaft der Stadt, und aus der Gesamtheit
derselben möchte ich in diesem und den zwei
folgenden Kapiteln eine bestimmte Zahl von Personen dem
Leser vorstellen dürfen.
-
-
-
- Da war zunächst der alte Landrat
von Flemming, damals ein Fünfziger, nach Geburt und
Stellung der erste Mann der Stadt und vielleicht auch der
beste. Guter, alter Adelstypus. Sein Adelsgefühl war
von jener eigentümlichen, glücklicherweise
häufiger vorkommenden Art, die nie verletzt, so wie
es Fromme gibt, deren Frömmigkeit nie bedrückt.
Jene Adligen und diese Frommen haben eben nur das
Bewußtsein eines inneren Vermögens, still,
ohne jede Provokation. Der alte Flemming gehörte zu
diesen Bevorzugten; er war vollkommen anspruchslos, eine
tief bescheidene Natur, die die sogenannten Gaben nicht
mißachtete, aber auch nicht überschätzte
und das Gewicht auf die Gesinnung legte. Seine
Beziehungen zu den guten Familien der Stadt waren die
besten von der Welt. Unter anderen Verhältnissen
hätte er es sehr wahrscheinlich vorgezogen, mit
seinen Standesgenossen zu leben, aber in Swinemünde
gab es deren nicht und in der Nachbarschaft nur sehr
wenige. So schloß er sich gesellschaftlich dem an,
was da war. Nur in einem nahm er beharrlich eine
Sonderstellung ein, wohl mit einer kleinen
liebenswürdigen Absichtlichkeit. Das war
hinsichtlich des Tischweins. Auf allen Tafeln hielt man
streng zum Stettiner Rotwein; der alte Flemming aber
bezog ihn direkt aus Bordeaux, was ihm viele Kosten und
wenig Dank einbrachte. "Wenn er sich doch zur Stettiner
Traube bekehren wollte", so hieß es oft, ohne
daß es geholfen hätte. Seine hinterpommerschen
Güter waren verpachtet und wurden erst nach seinem
Tode von der Familie wieder übernommen. Er hatte
sich spät verheiratet, und sein Haus, dem ein
reicher Kindersegen erblühte, tat sich ebenso durch
gute Sitte wie durch Herzensgüte hervor. Zwischen
seiner Frau und meiner Mutter bestand eine große
Liebe, was wohl in gegenseitigem Respekt der Charaktere
seinen Grund hatte. Diese besondere Freundschaft
führte denn auch zur Stiftung eines "cercle intime",
der eine etwas merkwürdige Zusammensetzung hatte:
Landrat von Flemming (Uradel), Rittergutsbesitzer von
Borcke (dito), Apotheker Fontane. Hierin lagen denn auch,
trotz besten Willens auf beiden Seiten, die Keime raschen
Auseinanderfallens, und es kam wirklich über einen
ersten Gesellschaftsabend nicht hinaus. Man hatte sich
bei Flemmings versammelt, und als es zu Tische ging,
reichte der alte Flemming der schönen Frau von
Borcke seinen Arm und von Borcke der Frau von Flemming;
mein Vater und meine Mutter blieben übrig. "Eh bien,
Madame, Dieu le veut" sagte mein Vater, und beide folgten
als drittes Paar. Es kam andern Tags zu den aufrichtigst
gemeinten Entschuldigungen, ohne daß diese den
"cercle intime" wiederhergestellt hätten. Aber auch
ohne diesen, die Freundschaft blieb und überdauerte,
wie gleich hier erzählt werden mag, unseren
Swinemünder Aufenthalt um viele Jahre. Dessen war
besonders die silberne Hochzeit meiner Eltern, 1844, ein
beredter Zeuge. Wir lebten damals in einem großen
und reichen Oderbruchdorfe, zwei Meilen von Küstrin,
und von uns Kindern war, wohl oder übel, ein
Polterabend vorbereitet worden. Die Mama hatte sich
zunächst sehr energisch dagegen ausgesprochen, war
aber schließlich überwunden worden. Und so kam
denn der große Tag heran. Am Spätnachmittage,
kurz vor Beginn der Aufführungen - einige von uns
waren schon in Kostüm - fuhr unter herzhaftem Blasen
des Postillons eine Extrapost bei uns vor, und dem
ziemlich klapprigen Wagen entstiegen, nachdem ein Tritt
herangerückt war (denn die Wege waren mal wieder
grundlos), als erster der alte Landrat von Flemming und
hinter ihm her ein zweiter Herr, beide abdeputiert, um
dem Silberpaare die Grüße der alten
Swinemünder Freunde zu bringen. Sie kamen, wie sich
denken läßt, nicht mit leeren Händen, und
als wir Kinder das Unsere getan und unser Festspiel
beendet hatten, trat von Flemming im Namen der alten
Tafelrunde vor und überreichte unter feierlicher
Ansprache einen Pokal. Die Freude war groß und
aufrichtig. Ein kleines Abendessen folgte dieser Szene,
von allerlei Reden begleitet; aber diese Reden und
Gegenreden, so viele ihrer waren, reichten doch nicht
aus, die langen Abendstunden mit Manier zu füllen,
so daß gegen neun der Spieltisch aufgeklappt und
eine Partie ganz wie vordem arrangiert wurde. Dies
wiederholte sich auch am nächstfolgenden Tage, wo,
nach dem stattgehabten eigentlichen Festmahle, die
Verlegenheiten hinsichtlich Unterbringung der Zeit noch
um ein erhebliches größer waren. Alles in
allem war, als sich, Gott sei Dank, am Morgen des dritten
Tages der Abreisemoment näherte, die Mehrzahl der
Stunden am Whisttisch verbracht worden. Und nun kam der
Abschied selbst. Wir sahen den beiden Scheidenden unter
Tücherwehen eine ganze Weile nach, dann aber nahm
mich mein Vater unterm Arm und sagte, während er mit
mir auf und ab ging: "Es war sans phrase reizend, aber
einschließlich unseres Whist en trois doch etwas
kostspielig. Habe wieder ein Erkleckliches dabei
verloren. Andrerseits muß ich sagen, es hätte
mich doch sehr geniert, wenn ich der Gewinner gewesen
wäre. Bedenke nur den Pokal und die Reise! Freilich,
merkwürdig ist und bleibt es... nicht einmal an
meinem silbernen Hochzeitstage... immer dasselbe Pech. Ob
es doch vielleicht ein Zeichen für mich sein soll,
eine Schicksalsmahnung, es aufzugeben!"
-
- Und wirklich, er gab es auf! Freilich
nicht direkt, aber der hier geschilderte Tag war doch ein
Wendepunkt, und wenn ich ihn in seinen letzten
Lebensjahren besuchte, beglückwünschte er sich
regelmäßig zu diesem endlichen Wandel der
Dinge und sagte: "Das verdanke ich dem alten Flemming;
weißt du noch, damals, als er mir den Pokal
brachte."
-
- (1) Ein solches Hinüberrollen schwerer
Geschütze von der einen Seite des Schiffs auf die
andere hat sich im Kriege zu Zwecken der Verteidigung
öfters zugetragen; einmal aber kam es auch mitten
im Frieden vor und führte, weil unvorhergesehen,
eine schreckliche Katastrophe herauf. Das war in den
siebziger oder achtziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts. Um diese Zeit lag der õRoyal
Georgeã auf der Reede von Portsmouth, und der
Admiral veranstaltete an Bord dieses seines
Flaggschiffes einen Ball, zu dem außer der
vornehmen Welt von Portsmouth auch die jungen
Offiziere der Kanal-Flotte geladen waren. Alles war
Glanz und Glück. Aber mit einem Male,
während man, so wird wenigstens angenommen, eben
zu einem neuen Tanze antrat, senkte sich das Schiff,
wenn auch zunächst nur langsam, nach links
hinüber, und ehe man das volle Gefühl der
Gefahr noch haben konnte, schlug es um und versank
lautlos. Die Kanonen der rechten Seite, die man
versäumt hatte festzulegen, waren, als eine Brise
von derselben Seite her heranwehte, durch ein
Sich-schräg-Legen des Schiffs nach links
hinübergerollt und hatten das Unglück
herbeigeführt. - Ein halbes Jahrhundert und mehr
hatte den Vorfall in Vergessenheit geraten lassen, als
die mittlerweile seitens der Taucherkunst gemachten
Fortschritte zu dem Versuche führten, das Schiff
wieder zu heben oder wenigstens den Wertinhalt
desselben wieder ans Licht zu schaffen. Ich lebte
gerade damals, 1858, in England und verfolgte diese
Versuche mit dem höchsten Interesse. Die Taucher
waren selbstverständlich die Helden des Tages.
Ihr beständiges Sich-bewegen-Müssen unter
den geputzten Balldamen in der Salonkajüte hatte
manches, was auf die Nerven fiel; aber eine ganz
bestimmte Szene, die vorkam, war doch noch von etwas
besonders Schreckhaftem begleitet. Es galt, als man
mit dem Leichteren fertig war, zuletzt noch die
Hinaufschaffung der Geschütze, die denn auch
dadurch bewerkstelligt wurde, daß die Taucher
eine von oben her herabgelassene Eisenkette um die
Rohre legten und dann das Zeichen zum Aufziehen gaben.
Einem der Taucher war dies schon etliche Male
geglückt; als er aber damit fortfuhr und sich
eben wieder mit dem Umlegen der Kette
beschäftigte, sah er, daß ein ungeheurer
Seefrosch, der sich in dem mächtigen
Geschützrohr einquartiert hatte, seinen Kopf
neugierig vorstreckend, ihn mit seinen
Riesenfroschaugen ziemlich mißmutig ansah. Er
erschrak heftig; aber voll Geistesgegenwart den
Kanonenwischer packend, der noch auf der Lafette lag,
stieß er den Neugierigen in seine Wohnung
zurück, ließ den Wischer wie einen
Verschlußpfropfen drin stecken und gab,
während er sich rittlings auf die Kanone schwang,
das Signal, auf das hin nun die Hebemaschine sowohl
ihn wie das Geschütz selbst und den gefangenen
Seefrosch nach oben zog.
-
-
- Frau von Flemming war eine geb.
Koenigk. Ihr Vater starb früh, aber ihr Oheim lebte
noch in den hier von mir zu schildernden Tagen. Es war
das der alte Steuerrat Koenigk. Er nahm neben Landrat von
Flemming wohl die erste Stellung ein, so wenigstens
erschien es mir, was übrigens möglicherweise
nur darin seinen Grund hatte, daß ich, infolge von
vielen noch aus der Zeit der Kontinentalsperre
herrührenden Geschichten, vor jeglichem, was mit
Steuer und Douane zusammenhing, einen großen
Respekt hegte. So war einer dieser Geschichten nach, ich
glaube im Jahre 1809, der Versuch gemacht worden, eine
Schiffsladung voll Vanille einzuschmuggeln,
selbstverständlich eine Sache von sehr bedeutendem
Wert. Die Douane kam indessen dahinter und belegte die
ganze Ladung mit Beschlag. Aber nicht das allein, auch
vernichtet mußte die Ladung werden, und so wurden
denn Hunderte von Vanillekisten auf dem großen
Marktplatz übereinandergeschichtet und
angezündet. Dies geschah zufällig bei nebligem
Wetter, und so kam es denn, daß der die Flamme
niederdrückende Nebel die Stadt einen ganzen Tag
lang in eine Vanillenatmosphäre hüllte. Wo so
was vorkommen konnte, da spielte die Steuer
natürlich eine Rolle. - Steuerrat Koenigk war ein
Herr von sehr feinen Sitten, ernst und liebenswürdig
zugleich, dabei voll Geistesgegenwart. Einmal in eine
Gesellschaft geladen, wurde er aufgefordert, sich an den
Spieltisch zu setzen. Das erste, was er sah, waren
ungestempelte Karten. Er erhob sich einfach von seinem
Platz und ging in das Nebenzimmer, um da mit den Damen zu
plaudern. Die Karten verschwanden natürlich sofort.
Koenigk, als wir nach Swinemünde kamen, war schon
mehrere Jahre lang Witwer und lebte zurückgezogener
als andere. Von seinen beiden Söhnen aber war der
ältere dann und wann auf Besuch im väterlichen
Hause. Dieser ältere, Karl, hatte sich dem Baufach
gewidmet und bekleidete zuletzt ein Direktorialamt
(Betriebsdirektor) an der Anhalter Eisenbahn. Er
beschloß seine Tage in einer kleinen Stadt am Harz.
Der jüngere Bruder, Louis, führte ein
eigentümlich wechselvolles Leben. Er war stark in
die Demagogenbewegung verwickelt und hatte Festungshaft
zu verbüßen. Als er wieder freikam, kam auch
er vorübergehend ins väterliche Haus, und ich
entsinne mich seiner aus jener Zeit her sehr wohl. "Er
war für Freiheit und kam auf die Festung", in diese
Lapidarworte faßte mein Vater die Situation
zusammen, und ich meinerseits war voller Teilnahme, weil
ich in dem Ganzen etwas Heldenmäßiges und
Opferfreudiges sah, das mir als solches imponierte. Von
seinem Lebensausgang erfuhr ich später das Folgende.
Mitte der dreißiger Jahre ging er als Erzieher zu
den Kindern eines Grafen Bninski; dort war er lange Zeit,
wurde Freund des Hauses und sprach nur oft den Wunsch
aus, daß er auf dem Swinemünder Kirchhofe
begraben sein möchte. Daß sich dies
erfüllen würde, war ihm selber sehr
zweifelhaft. Aber es erfüllte sich doch. Er wurde
nervenkrank und sollte, nach ärztlichem Rat, zu
seiner Wiederherstellung in ein Seebad. Er wählte
natürlich Swinemünde. Da starb er und ruht nun
da, wo er zu ruhen wünschte.
-
-
-
- Ein anderer aus der
Honoratiorenschaft war Hofrat Dr. Kind, wenn ich recht
berichtet bin, ein Neffe des Freischützdichters
Friedrich Kind. Er war mit einem Fräulein Valentini
verheiratet, einer Schwester des um jene Zeit als
Universitätslehrer in Berlin lebenden italienischen
Professors Valentini. Das damals erst aufblühende
Swinemünder Seebad verdankte dem Eifer Kinds sehr
viel; unter anderem war er auch schriftstellerisch in
dieser Richtung tätig. In seiner Erscheinung war er
klein und fein, typischer Sachse, was sonderbarerweise
die Spottlust der sonst so humoristisch-derb
zugeschnittenen Swinemünder nicht herausforderte.
Nie war er Gegenstand von neckischen Angriffen und ist
mir dadurch immer ein Beweis geblieben, daß man
Hänseleien sehr wohl entgehen kann, auch ohne
Grobheit, Unliebenswürdigkeit und Zweikämpfe.
Denn es ist sehr selten, daß Spötter unter
allen Umständen ihren Spott treiben; sie suchen
vielmehr zunächst nach Schwächen, und erst wenn
sie diese gefunden haben, haken sie ein, während
alle diejenigen unbehelligt bleiben, die ruhig und artig
ihren Weg wandeln und keine Blöße bieten. So
war es auch mit Dr. Kind. Er war unser Hausarzt, und
meine Mutter hielt große Stücke auf ihn. "Die
andern", sagte sie, "sind Witzbolde; Dr. Kind ist aber
ein feiner Mann, und wenn ich da wählen soll, wird
mir die Wahl nicht schwer."
-
- Hofrat Kind war Hüter unseres
physischen Menschen, der alte Pastor Kastner dagegen war
Hüter unserer Seelen. Allerdings nicht auf lange
mehr; er starb bald nach unserer Ankunft. Sein Amtieren
am Ort reichte wohl bis in die letzten friderizianischen
Regierungsjahre, jedenfalls bis in die Franzosenzeit
zurück, und wenn er "Erinnerungen" geschrieben
hätte, so hätte das wohl das anschaulichste
Bild einer kleinen pommerschen Seestadt aus dem Ende des
vorigen und dem Beginne dieses Jahrhunderts gegeben. Er
hatte durch all die Zeit hin, trotzdem es Zeiten
bedenklichster Lebens- und Gesellschaftsformen waren,
sein Ansehen nicht eingebüßt, und die Liebe
seiner Gemeinde stiftete ihm gegen das Ende seiner Tage
hin ein lebensgroßes Bild in der Kirche, das, wie
die Bilder aller alten Pastoren mit Doppelkinn, den
ausgesprochenen Luthertypus zeigte. Wenn wir gelegentlich
dem alten Küster Hahr, der nebenher auch noch
Totengräber und Glöckner war, beim
Glockenläuten halfen, schlich ich mich meistens aus
der Vorhalle der Kirche in diese selbst hinein,
bloß um das Bild des alten Kastner, der mir als der
Inbegriff des Ehrwürdigen erschien, besser vor Augen
zu haben. Daß mich der alte K. beziehungsweise sein
Bild so lebhaft interessierte, hatte freilich seinen
Grund nicht bloß in der ehrwürdigen
Erscheinung des Alten, sondern mehr noch darin, daß
mir mein Vater erzählt hatte, Pastor Kastner,
trotzdem er nur arm sei, habe seine drei Söhne
studieren lassen, und alle drei seien Professoren
geworden, einer sogar Professor der Chemie zu Kasan, "zu
Kasan an der Wolga mit beinahe 60 000 Einwohnern". Mein
Vater hatte nämlich, wie schon angedeutet, ein
besonderes Talent, nicht bloß historische, sondern
auch geographische Namen derart auszusprechen, daß
sie einen Eindruck machen mußten, besonders wenn er
die Namensnennung noch mit einer großen
Einwohnerzahl begleiten konnte.
-
- Neben dem Predigerhause stand das
Bürgermeisterhaus, drin Bürgermeister Beda
wohnte. Wie Kastner, so war auch Beda schon alt und
krank, und sein Stadtregiment, wenn er ein solches
überhaupt noch führte, währte nicht lange
mehr. Kaum ist mir ein Bild von ihm geblieben, desto
deutlicher aber von seiner (zweiten) Frau. Diese war beim
Hinscheiden ihres Gatten noch eine Schönheit ersten
Ranges und stammte wahrscheinlich aus dem Süden, ich
würde sagen aus Süd-Spanien, wenn sie nicht
statt klein und zierlich wie die meisten
Südspanierinnen von imposanter Erscheinung gewesen
wäre, groß, ernst, hoheitlich. Jedenfalls war
ihr etwas völlig Fremdartiges eigen, und als ich
einige zwanzig Jahre später Storms Gedichte kennen
und bewundern lernte, konnte ich eines dieser Gedichte
nie lesen, ohne die Gestalt der schönen Frau Beda
wieder vor mir aufsteigen zu sehen. Dies Gedicht
hieß "Die Fremde" und lautete in seinen
Schlußzeilen:
-
- Ich hörte niemals heim
verlangen
- Den stolzen Mund der
schönen Frau,
- Nur auf den südlich
blassen Wangen
- Und über der
gewölbten Brau
- Lag noch Granadas
Mondenschimmer,
- Den sie vertauscht um unsern
Strand,
- Und ihre Augen dachten
immer
- An ihr beglänztes
Heimatland.
-
- All das paßte genau auf die
schöne Frau Beda. Ihre älteste Tochter, die
viele Jahre später in unserem Hause lebte und meine
jüngste Schwester erzog, war in ihrer Jugend von
gleicher Schönheit wie die Mutter, aber nicht von
derselben Dauerbarkeit. Ein jüngerer Sohn der Frau
Beda, der jahrelang zu meinen Spielgefährten
zählte, ging später nach England und wurde
preußischer Konsul in Leith bei Edinburg. Da sah
ich ihn 1858 auf einer Reise durch Schottland wieder, ihn
und seine junge Frau. Diese war eine Tochter des
Historikers Alison, eines der wenigen englischen
Geschichtsschreiber, die torystisch und (was Alison
angeht) sogar im Sinne und zur Verteidigung der gesamten
Stuart-Familie geschrieben haben. Auch das kam zur
Sprache, und wir verplauderten sehr angenehme
Stunden.
-
- Die Mutter und Tochter Beda waren
Schönheiten, was mir Gelegenheit gibt, hier
einschaltend über die Swinemünder Frauenwelt
überhaupt zu sprechen. Der kleine Ort war wie eine
lebendige Gallery of beauties und gab so recht den Beweis
für die Überlegenheit der Meeresanwohner in
allem, was Erscheinung angeht. Wohl mag gelegentlich auch
eine deutsche Binnenlandsbevölkerung, also
beispielsweise die Bevölkerung in Rhein- und
Main-Franken, in einzelnen Teilen von Schwaben, auch
sporadisch in Sachsen und Schlesien, ähnlich hohe
Prozentsätze von anmutigen Frauen und Mädchen
aufweisen, ich bilde mir aber ein, nirgends in meiner
deutschen Heimat so viel weibliche Schönheit gesehen
zu haben, wie damals in dieser kleinen Stadt. In den
guten Familien war eigentlich alles hübsch, aber
fast noch hübscher war die dienende Klasse. Weiter
oben habe ich den Namen des Totengräbers Hahr
genannt; seine Tochter war bei uns im Hause und so
schön, daß sie sich weit über ihren Stand
und ihre Bildung hinaus verheiratete. Was daraus geworden
ist, weiß ich nicht. Und dabei war es, als ob der
Ort nach dem Satze "wo viel ist, wird's immer mehr" auch
noch Anziehungskraft auf umwohnende Schönheiten
ausgeübt hätte. So kam es, daß sich eines
Tages aus dem Neuvorpommerschen ein Major Thomas mit
seinen Töchtern in Swinemünde niederließ,
drei jungen Damen, die nun durch Jahre hin den
Kulminationspunkt des gesellschaftlichen Lebens bildeten.
Mein Vater, ganz aus dem Häuschen, hielt begeisterte
Reden in dem ihm eigenen Stil, was jedesmal einen
Gegenstand äußerster Erheiterung für
meine Mutter ausmachte, während ich selbst, wenn ich
an den Ballabenden dem Tanze dieser drei Huldinnen
zusehen durfte, den Olthoffschen Ressourcensaal sich in
einen Weihetempel verwandeln sah.
-
- Ziemlich um dieselbe Zeit, als Major
Thomas eintraf, kam auch Schiffahrtsdirektor Bauer. Er
hatte keine schönen Töchter, spielte sich aber
selber auf Schönheit oder um mit meinem Vater zu
sprechen "auf ein gefälliges Exterieur hin" aus. Und
nicht ohne Grund, denn er hatte gesunde Farben und blonde
Löckchen und trug eine goldne Brille. Noch ehe er da
war, war schon eine Art Opposition gegen ihn im Gange,
was der Sachlage nach eigentlich nur natürlich war.
Es hatte bis dahin, wenn ich recht berichtet bin, keine
Schiffahrtsdirektor-Stelle gegeben, und nun schuf man
eine solche. Wenn man nach dem Namen gehen durfte, so
mußte die Stelle notwendig den Zweck haben, der
Schiffahrt aufzuhelfen, und der, der bestimmt war, diese
Hilfe zu leisten, mußte was davon verstehen. Aber
verstand der in Sicht Stehende wirklich etwas davon? Das
wollte nicht recht einleuchten. Er war ein
Binnenlandsmensch und hatte von Schiffen schwerlich mehr
gesehen als eine Gondelflottille zwischen Treptow und
Stralau. Was konnte der helfen und fördern! Das war
so die Stimmung, als er kam. Ein Herr vom
grünen Tisch", so hieß es. Nun mochte sich
manches Richtige darin aussprechen, nur in einem war es
nicht richtig; der eben Eingetroffene war alles, nur kein
Herr vom grünen Tisch", genau das Gegenteil.
Er hatte seine Laufbahn als Schillianer oder
Lützower oder freiwilliger Jäger begonnen und
war um bewiesener Schneidigkeit und patriotischer
Gesinnung willen in den Staatsdienst herübergenommen
worden. Alle diese Personen, was sonst auch gegen sie
gesagt werden konnte, waren nie Schreiberseelen, setzten
vielmehr umgekehrt ihr Vertrauen und ihren Anspruch ans
Leben in ihre Persönlichkeit und gingen davon aus,
daß sich mit gutem Mut und gesundem
Menschenverstand - eine gute staatliche
Rückendeckung natürlich vorausgesetzt - alles
machen ließe. Fachwissen und Schreiberei, dazu
waren die Sekretäre da; Sicherheit des Auftretens,
gute Nerven und Frühstücksstimmung, das war
das, worauf es ankam. Von dieser Anschauung und Richtung
war denn auch der neue Schiffahrtsdirektor. Als er sich
eingeführt hatte, sah man sofort, daß man ihn
falsch taxiert habe, was indessen die Stimmung gegen ihn
nicht besserte. Vom grünen Tisch war er nicht, er
war umgekehrt Lebemann und ganz und gar darauf aus, in
kluger Weise die Dinge zu seinem Vorteil zu gestalten.
Das war etwas durchaus anderes, aber in den Augen der
regierenden Klasse mindestens ebenso gefährlich oder
vielleicht noch gefährlicher. Es galt also, ihn in
Schach zu halten, was seiner Gewandtheit und
Schlagfertigkeit gegenüber nicht ganz leicht war.
Endlich indessen fand sich die Gelegenheit dazu. Bauer,
ganz Autodidakt, hatte die Schwäche aller
Autodidakten, sich auf Bildung" hin ausspielen und
in Fremdwörtern exzellieren zu wollen. Eine Weile
ging das. Mit einem mal aber schlug seine Stunde, und das
irrtümlich angewandte Wort Triumph" wurde zum
Triumph für seine Gegner. Er ließ nämlich
einen Wohltätigkeitsaufruf drucken, darin in klug
berechneter Huldigung gegen die drei reichsten und
angesehensten Familien Swinemündes, von dem
Triumphirate der Stadt" gesprochen wurde. Da hatten
sie ihn, er war entdeckt. An dem unglücklichen
ph" war seine Macht gescheitert. Ähnliche
Menschlichkeiten folgten, und das eine Zeitlang um sein
Ansehen besorgt gewesene Honoratiorentum führte nun
das bis dahin so stolze Roß ruhig und sicher am
Zügel. Man ließ ihm seine Rodomontaden und war
zufrieden, ihn in seinen eigenen Augen einigermaßen
entgöttert zu haben. Bauer - der übrigens
zwanzig Jahre später (1848) als demokratischer
Krotoschiner Bürgermeister noch einmal eine kurze
Weile geglänzt haben soll - war einfach Mensch
geworden, und der alte Swinemünder Ton konnte, wie
vordem, unbehindert weiterherrschen.
-
- Unter denen, die diesen alten Ton in
seiner kräftigsten Urgestalt repräsentierten,
stand Konsul Thompson obenan. Er bewohnte ein
großes Haus am Markt, ein Haus mit drei Fronten, an
deren einer sein kleiner Kaufladen lag, denn, wie bei
allen Konsuln, so durfte auch bei ihm der Laden nicht
fehlen. Warum alle so sehr darauf hielten, weiß ich
nicht, da, wie mir scheinen will, der Ertrag dieser
Läden nur unbedeutend sein konnte. Thompson, damals
ein Mann von Mitte Vierzig, glich für
gewöhnlich dem deutschen Herrn", dem
Tiefenbach in den Piccolominis, verstand es aber, wenn es
paßte, den gemütlichen Tiefenbach in den
rücksichtslosesten Illo zu verkehren. Klug,
humoristisch, voll Schlagfertigkeit, war er immer noch
sehr beliebt und einflußreich, trotzdem er den
unter dem Ansehen einer anderen und geschulteren Familie
seit etwa fünfzehn Jahren immer maßvoller
gewordenen Stadtton nicht mehr ausschließlich
bestimmte. Nur im Bowlebrauen war er unbestrittener
Herrscher geblieben.
-
- In einer Art Gegensatz zu ihm stand
Kaufmann Schultze, der, was Thompson in steifem Grog
leistete, seinerseits in matter Limonade war. Aber
ebendeshalb war er wie geschaffen zum Ballarrangeur und
Vergnügungsdirektor, und der sentimentalere Teil der
Damenwelt verzog ihn ganz ungebührlich, besonders
weil er nebenher auch noch des Vorzugs genoß, der
einzige Tenor der Stadt zu sein. Um seinen etwas
müde dreinschauenden Kopf lag immer ein Ausdruck
höherer Weihe. Dabei hielt er sich für die
Swinemünder für zu schade. Wenn ich mir jetzt
sein Bild zurückrufe, kommt es mir vor, als
hätt' ich zu bestimmten Epochen meines Lebens eine
gewisse Ähnlichkeit mit ihm gehabt. - Tenor oder
Lyrik macht wenig Unterschied.
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