www.martinschlu.de


Kulturgeschichte - 19. Jahrhundert - Storm - Der Schimmelreiter


zurück

Einleitung und Vorbereitung
Erzählung des Schulmeisters
Unterbrechung, Trin' Jans
Haukes kommt zum Deichgrafen
Haukes Gespräch mit Elke
Eisboseln und Ole Peters
Eisboseln, Versöhnung mit Trine
Tod Tede Haiens, Haukes Erbteil
Begräbnis und Nachfolge
Hauke als Deichgraf
Das Pferd von Jever
Haukes Schimmel
Der neue Deich
Deichbau
Nachwuchs
„etwas lebigs -Wienke
Sturm und Untergang
Materialien
Pappes Vorlage
Rungholt
Liliencrons Gedicht

Text als pdf-Datei

Theodor Storm
Der Schimmelreiter (Novelle, 1888) - 15. Nachwuchs bei Hauens

zurück - weiter

- - Inzwischen hatte im Hause des Deichgrafen sich ein frohes Ereignis vorbereitet: im neunten Ehejahr war noch ein Kind geboren worden. Es war rot und hutzelig und wog seine sieben Pfund, wie es für neugeborene Kinder sich gebührt, wenn sie, wie dies, dem weiblichen Geschlechte angehören; nur sein (Reclam, S. 98) Geschrei war wunderlich verhohlen und hatte der Wehmutter (Hebamme) nicht gefallen wollen. Das Schlimmste war: am dritten Tage lag Elke im hellen Kindbettfieber, redete Irrsal und kannte weder ihren Mann noch ihre alte Helferin. Die unbändige Freude, die Hauke beim Anblick seines Kindes ergriffen hatte, war zu Trübsal geworden; der Arzt aus der Stadt war geholt, er saß am Bett und fühlte den Puls und verschrieb und sah ratlos um sich her. Hauke schüttelte den Kopf. „Der hilft nicht; nur Gott kann helfen!" Er hatte sich sein eigen Christentum zurechtgerechnet, aber es war etwas, das sein Gebet zurückhielt. Als der alte Doktor davongefahren war, stand er am Fenster, in den winterlichen Tag hinausstarrend, und während die Kranke aus ihren Phantasien aufschrie, schränkte er die Hände zusammen; er wußte selber nicht, war es aus Andacht oder war es nur, um in der ungeheueren Angst sich selbst nicht zu verlieren.
 
„Wasser! Das Wasser!" wimmerte die Kranke. „Halt mich!" schrie sie; „halt mich, Hauke!" Dann sank die Stimme; es klang, als ob sie weine: „In See, ins Haff hinaus? O lieber Gott, ich seh ihn nimmer wieder!"
Da wandte er sich und schob die Wärterin von ihrem Bette; er fiel auf seine Knie, umfaßte sein Weib und riß sie an sich: „Elke! Elke, so kenn mich doch, ich bin ja bei dir!"
 
Aber sie öffnete nur die fieberglühenden Augen weit und sah wie rettungslos verloren um sich.
Er legte sie zurück auf ihre Kissen; dann krampfte er die Hände ineinander. „Herr, mein Gott", schrie er; „nimm sie mir nicht! Du weißt, ich kann sie nicht entbehren!" Dann war's, als ob er sich besinne, und leiser setzte er hinzu: „Ich weiß ja wohl, du kannst nicht allezeit, wie du willst, auch du nicht; du bist allweise; du mußt nach deiner Weisheit tun - o Herr, sprich nur durch einen Hauch zu mir!"
Es war, als ob plötzlich eine Stille eingetreten sei; er hörte nur ein leises Atmen; als er sich zum Bette kehrte, lag sein Weib in ruhigem Schlaf, nur die Wärterin sah mit entsetzten Augen auf ihn. Er hörte die Tür gehen. „Wer war das?" frug er.

„Herr, die Magd Ann Grete ging hinaus; sie hatte den Warmkorb hereingebracht."
- „Was sieht Sie mich denn so verfahren an, Frau Levke?"
„Ich? Ich hab mich ob Eurem Gebet erschrocken; damit betet Ihr keinen vom Tode los!"
Hauke sah sie mit seinen durchdringenden Augen an: „Besucht Sie denn auch, wie unsere Ann Grete, die Konventikel (Gebetsversammlung der Pietisten) bei dem holländischen Flickschneider Jantje?"
„Ja, Herr; wir haben beide den lebendigen Glauben!"
 
Hauke antwortete ihr nicht. Das damals stark im Schwange (in Mode) gehende separatistische Konventikelwesen hatte auch unter den Friesen seine Blüten getrieben; heruntergekommene Handwerker oder wegen Trunkes abgesetzte Schulmeister spielten darin die Hauptrolle, und Dirnen, junge und alte Weiber, Faulenzer und einsame Menschen liefen eifrig in die heimlichen Versammlungen, in denen jeder den Priester spielen konnte. Aus des Deichgrafen Hause brachten Ann Grete und der in sie verliebte Dienstjunge ihre freien Abende dort zu. Freilich hatte Elke ihre Bedenken darüber gegen Hauke nicht zurückgehalten; aber er hatte gemeint, in Glaubenssachen solle man keinem dreinreden: das schade niemandem, und besser dort doch als im Schnapskrug!

So war es dabei geblieben, und so hatte er auch (Reclam, S. 100) jetzt geschwiegen. Aber freilich über ihn schwieg man nicht; seine Gebetsworte liefen um von Haus zu Haus: er hatte Gottes Allmacht bestritten; was war ein Gott denn ohne Allmacht? Er war ein Gottesleugner; die Sache mit dem Teufelspferde mochte auch am Ende richtig sein!
 
Hauke erfuhr nichts davon; er hatte in diesen Tagen nur Ohren und Augen für sein Weib, selbst das Kind war für ihn nicht mehr auf der Welt.

Der alte Arzt kam wieder, kam jeden Tag, mitunter zweimal, blieb dann eine ganze Nacht, schrieb wieder ein Rezept, und der Knecht Iven Johns ritt damit im Flug zur Apotheke. Dann aber wurde sein Gesicht freundlicher, er nickte dem Deichgrafen vertraulich zu: „Es geht! Es geht! Mit Gottes Hülfe!" Und eines Tags - hatte nun seine Kunst die Krankheit besiegt, oder hatte auf Haukes Gebet der liebe Gott doch noch einen Ausweg finden können -, als der Doktor mit der Kranken allein war, sprach er zu ihr, und seine alten Augen lachten: „Frau, jetzt kann ich's getrost Euch sagen: heut hat der Doktor seinen Festtag; es stand schlimm um Euch, aber nun gehöret Ihr wieder zu uns, zu den Lebendigen!"
 
Da brach es wie ein Strahlenmeer aus ihren dunklen Augen. „Hauke! Hauke, wo bist du?" rief sie, und als er auf den hellen Ruf ins Zimmer und an ihr Bett stürzte, schlug sie die Arme um seinen Nacken. „Hauke, mein Mann, gerettet! Ich bleibe bei dir!"
Da zog der alte Doktor sein seiden Schnupftuch aus der Tasche, fuhr sich damit über Stirn und Wangen und ging kopfnickend aus dem Zimmer.

- - Am dritten Abend nach diesem Tage sprach ein frommer Redner - es war ein vom Deichgrafen aus der Arbeit gejagter Pantoffelmacher - im Konventikel bei dem holländischen Schneider, da er seinen (Reclam, S. 101) Zuhörern die Eigenschaften Gottes auseinandersetzte: „Wer aber Gottes Allmacht widerstreitet, wer da sagt: ich weiß, du kannst nicht, was du willst - wir kennen den Unglückseligen ja alle; er lastet gleich einem Stein auf der Gemeinde -, der ist von Gott gefallen und suchet den Feind Gottes, den Freund der Sünde, zu seinem Tröster; denn nach irgendeinem Stabe muß die Hand des Menschen greifen. Ihr aber, hütet euch vor dem, der also betet; sein Gebet ist Fluch!"
 
- - Auch das lief um von Haus zu Haus. Was läuft nicht um in einer kleinen Gemeinde? Und auch zu Haukes Ohren kam es. Er sprach kein Wort darüber, nicht einmal zu seinem Weibe; nur mitunter konnte er sie heftig umfassen und an sich ziehen: „Bleib mir treu, Elke! Bleib mir treu!" - Dann sahen ihre Augen voll Staunen zu ihm auf. „Dir treu? Wem sollte ich denn anders treu sein?" - Nach einer kurzen Weile aber hatte sie sein Wort verstanden. „Ja, Hauke, wir sind uns treu; nicht nur, weil wir uns brauchen." Und dann ging jedes seinen Arbeitsweg.

Das wäre soweit gut gewesen; aber es war doch trotz aller lebendigen Arbeit eine Einsamkeit um ihn, und in seinem Herzen nistete sich ein Trotz und abgeschlossenes Wesen gegen andere Menschen ein; nur gegen sein Weib blieb er allezeit der gleiche, und an der Wiege seines Kindes lag er abends und morgens auf den Knien, als sei dort die Stätte seines ewigen Heils. Gegen Gesinde und Arbeiter aber wurde er strenger; die Ungeschickten und Fahrlässigen, die er früher durch ruhigen Tadel zurechtgewiesen hatte, wurden jetzt durch hartes Anfahren aufgeschreckt, und Elke ging mitunter leise bessern.
___________
 
zurück - weiter